Wie soll ein Pensionssystem ohne weitere Strukturreformen jemals nachhaltig und sicherer werden?

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Das Pensionsantrittsalter steigt, jubelte kürzlich die Pensionsversicherungsanstalt. Eine "Kleinkleinsicht", so Sozialwissenschafter Bernd Marin. Im Gastkommentar mahnt er Strukturreformen bei den altersbezogenen Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege ein.

Die Stimmung zum Pensionsklima ist viel besser als die Lage. So jubelt der Obmann der Pensionsversicherungsanstalt (PVA), das Antrittsalter sei von 2017 auf 2018 um drei (Frauen) bis vier Monate (Männer) gestiegen. Das war tatsächlich ein bisserl besser als im letzten Jahrzehnt und gegenüber dem Einbruch 2016.

Doch was bedeutet das? Frohlocken über einen kaum halbwahren Teilaspekt schuldet sich der Kleinkleinsicht auf unverstandene Zahlen in belanglosen Kurzzeithorizonten. Denn Denken in Zeiträumen von Generationen würde uns aufrütteln, nicht beruhigen: Das Pensionsantrittsalter ist 2019 wieder auf dem Niveau von 1976, also von vor 43 Jahren – bei rund zehn Jahren höherer Lebenserwartung und Pensionsdauer. 70 ist das neue 62 der Kreisky-Ära.

Heute 43-Jährige haben etwa noch einmal so viel Lebenszeit vor wie bereits hinter sich – Demografen sagen gleich viel prospektives wie chronologisches Alter im Medianalter, in dem die halbe Bevölkerung jeweils jünger oder älter ist. Also fast so viel fernere Lebenserwartung in mittleren Jahren, wie meine Großmutter bei Geburt hatte.

Doch auch bei bester Gesundheit verbringen sie die Zukunft ihres halben Lebens überwiegend inaktiv – was bei Männern den Ruhestand gegenüber 1976 verdoppelt. Denn selbst zuletzt stieg das Antrittsalter langsamer als die Lebenserwartung. Und die Pensionsdauer nahm in 50 Jahren noch stärker zu als die Langlebigkeit. Wie soll ein Pensionssystem – ohne weitere Strukturreformen – so jemals nachhaltig und sicherer werden?

Kollektive Selbsttäuschung

Wir gleichen Fröschen im Kochtopf, die einen langsamen Temperaturanstieg als wohlig empfinden. Wer nicht aufs Thermometer achtet, wird den Absprung vor siedendem Wasser verpassen. Zu kollektiver Selbsttäuschung trägt vieles bei.

So ist ein Teil des jüngsten Altersanstiegs künstlich, ein statistisches Artefakt: Mit der (vernünftigen) Ausgliederung von Invalidität wurden rund 20.000 Reha-Geld-Bezieher aus der Pensionsstatistik herausgerechnet, obwohl sie weiter am Tropf staatlicher Zuwendung hängen.

Während die systemrelevanten Beitragszeiten der Versicherten stagnieren, steigen sündteure Ersatzzeiten. Das sind Lebensphasen im Erwerbsalter, in denen Pensionsrechte ohne Arbeit erworben werden – Perioden der Arbeitslosigkeit (1,9 Jahre), Kindererziehung (1,8 bis 3,7 Jahre), der Krankheit (zwei Jahre), Invalidität (3,9 bis 10,8 Jahre) und so weiter, die öffentlich alimentiert werden.

Diese doppelt teuren Ersatzzeiten sind 2009 bis 2019 um 20 Prozent auf 4,6 Jahre gestiegen. Das erklärt, weshalb wir von den kaum 37 (statt: 45) Jahren durchschnittlicher Erwerbsarbeit nur 32 Jahre Beiträge leisten, also Steuern und Abgaben zahlen, die unsere Pensionen sichern. Und sie tragen dazu bei, dass wir neben Jahrzehnten in Ausbildung und Ruhestand auch im Erwerbsalter 13 bis 18 Jahre nicht berufstätig, sondern inaktiv sind.

Unzumutbare Wahrheiten?

Und von der Regierung? Dröhnendes Schweigen. Inaktivität. Populistischer Stimmenfang. Schon im Regierungsprogramm keine Konzepte und Ambitionen.

Herumdoktern an Themen wie Familienbeihilfe und Mindestsicherung mit bloßen Promilleeinsparungen und kleinen grausamen Quälereien der sozial Schwächsten. Statt Strukturreformen bei den fast alles verschlingenden altersbezogenen Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege sowie für fette Subventionen und den aufgeblähten öffentlichen Sektor.

Wo sind die Reform-"türkisen" Kurz-VP-Kandidaten Josef Moser, Therese Niss und Rudolf Taschner verschollen? Erinnert sich der HBK noch an seine einstigen "geilen" Forderungen nach mehr "Generationengerechtigkeit"?

Wer sagt endlich öffentlich und glaubwürdig, dass wir sehr viel mehr Pflegekosten und wirksamere Pensionsausgaben brauchen? Dass wir schon heute eine Million Pensionen "zu viel", teils mehrfach und an Leute im besten Erwerbsalter, zahlen? Dass wir mehr Zeit im Ruhestand verbringen als die meisten Bürger weltweit – zulasten der Pensionsleistungen? Dass die prognostizierte dritte Million Pensionisten bis 2030 unverkraftbar und fast eine Million, überwiegend Frauen, von Altersarmut bedroht wäre, wenn sie weiter mehrheitlich Teilzeit arbeiten – und frühzeitiger aussteigen?

Wer (außer allen Fachleuten, EU, OECD et cetera) sagt hierzulande endlich, dass 71 bis 101 Tage jährlich länger zu leben, ohne einige davon auch zu arbeiten, einfach nicht geht – oder nur auf Kosten unserer Pensionshöhe und -sicherheit?

Wer sagt endlich offen (wie alle Fachleute, inklusive Heinz Faßmann bis 2017), dass wir deutlich mehr, aber qualifizierte und arbeitsmarktgesteuerte statt weniger Zuwanderung, und zwar aus Nicht-EU-Staaten, brauchen werden?

Und wer erklärt Reformbedarf so, dass das Narrativ großen Mehrheiten zustimmungsfähig, überzeugender – und emotional befriedigender – wird als die gegenwärtige schäbige Angstlust an Stillstand, Niedertracht und roher Freude an kleinen Gemeinheiten. Denn wenig ist erfüllender als Teilhabe an mutiger Gestaltung großer Vorhaben in Existenzfragen. (Bernd Marin, 1.4.2019)