Das Gehirn ist die gut geschützte Schaltzentrale des Organismus. Von hier aus erfolgen die Befehle. Außerdem werden Umwelteinflüsse verarbeitet.

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Sie sind nur wenige Millimeter klein, und doch ruhen große Hoffnungen auf ihnen: Miniorgane, die auf Kunststoffchips aufgebracht sind. Organe wie schlagende Herzen oder atmende Lungen in Smartphone- oder USB-Stick-Größe erleben zurzeit einen regelrechten Boom. Doch auch bei Hirnzellen auf Chips machen Forscher gegenwärtig große Fortschritte.

Hoffnungen machen diese Fortschritte vor allem in Bezug auf Medikamententests. Wollen Wissenschafter Medikamente gegen Erkrankungen des Gehirns auf die Probe stellen, helfen ihnen Tierversuche nur bedingt. Eine Maus ist nun einmal kein Mensch. "Ein Vorteil der Organchips gegenüber Tierversuchen ist, dass man mit menschlichen Zellen arbeiten kann", sagt die Biochemikerin Ute Schepers vom Karlsruher Institut für Technologie.

Denn die Reaktion von menschlichen Zellen auf Wirkstoffe sei oftmals anders als beim Tier. Außerdem kann man mithilfe von menschlichen Zellen bereits in einem frühen Stadium der Wirkstoffforschung auf etwaige Nebenwirkungen testen, die sonst erst in späteren klinischen Studien erkannt würden.

Gegen die Frustration

Auf diese Strategie setzt auch Roger Kamm. Der Bioingenieur vom Massachusetts Institute of Technology will Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) helfen. Die Erkrankung ist vergleichsweise selten – pro Jahr erkranken etwa zwei bis drei von 100.000 Einwohnern.

Die Krankheit tötet allmählich die Motoneurone, die die Muskeln kontrollieren. Die Patienten verlieren in der Folge nach und nach die Kontrolle über ihre Arme und Beine, können kaum oder oder gar nicht mehr schlucken und sprechen. Sie sterben auch oftmals im Laufe von drei bis fünf Jahren an den Folgen einer Lähmung der Atemmuskulatur.

Frustrierend sieht es an der Medikamentenfront aus: Es gibt derzeit bei ALS keine erfolgreiche Behandlungsstrategie, die eine Heilung ermöglicht. Um dies endlich zu ändern, hat Roger Kamm zusammen mit Kollegen für eine 2018 im Fachblatt Science Advances veröffentlichte Studie das Zusammenspiel von Motoneuronen und Muskelzellen nachgebildet.

Für die Motoneurone griffen sie auf sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen zurück. Um diese zu gewinnen, versetzten sie bereits differenzierte Körperzellen von ALS-Patienten und gesunden Probanden in einen quasi embryonalen Zustand zurück: In diesem Zustand können sie sich wieder in fast jeden Zelltyp differenzieren – darunter auch in Nervengewebe.

Für die Muskelzellen verwendeten die Wissenschafter Zellen von gesunden Probanden. Die Motoneurone und die Muskelfasern brachten sie anschließend in angrenzenden Kammern auf einem Chip unter.

Schwund der Muskelmasse

Im Laufe der Tage wuchsen die Nervenfasern der Motoneurone im Organchip aus, dockten an die Muskelzellen an und bildeten eine echte Verbindungsstelle aus. Doch bei den Patientenzellen lief das alles andere als glatt: Es kam zu einer Muskelatrophie, einem Schwund der Muskelmasse im Zuge des Abbaus von Motoneuronen.

Bei den Zellen der ALS-Patienten wuchsen die Nervenfortsätze langsamer und bildeten schwächere Verbindungen zu den Muskelfasern aus. In der Folge sorgten die Motoneurone von Patientenzellen für weniger Muskelkontraktionen als die von gesunden Zellen.

Anschließend haben Kamm und seine Kollegen zwei Medikamente getestet, die sich in der klinischen Erprobung befinden. Einzeln wirkten die Substanzen nicht so gut, aber in Kombination stellten sie die Kontraktionen bei dem Muskelgewebe aus Patientenzellen wieder her.

"Der Befund ist besonders spannend", sagt der Biotechnologe Peter Ertl von der Technischen Universität Wien, der an Organchips forscht. "Denn dabei handelt es sich um einen Schritt hin zu einer personalisierten Medizin." Eine medikamentöse Therapie auf einzelne Patienten maßzuschneidern wird möglich, indem man induzierte pluripotente Stammzellen von unterschiedlichen Patienten zur Herstellung der Chips verwendet.

Denn dann kann man schon absehen, wie ein konkreter Patient auf bestimmte Wirkstoffe reagieren wird. Und das ist ein weiterer Vorteil, den Peter Ertl beim Modell von Roger Kamm sieht: "Das Modell ermöglicht, die Wirkung von Medikamenten vorherzusagen."

Barrieren überwinden

Um aber die Wirkung von Medikamenten gegen Erkrankungen des Gehirns wirklich realistisch vorherzusagen, müssen Forscher noch etwas nachbilden, was Medikamenten oft erst gar keine Chance lässt: die Blut-Hirn-Schranke. Die mächtige Barriere verhindert, dass schädliche Substanzen wie Krankheitserreger oder Giftstoffe vom Blutkreislauf in unser Gehirn eindringen können.

Aber leider verwehrt sie auch zahlreichen Medikamenten den Zutritt. Viele Modellsysteme aus dem Labor wie sogenannte Hirn-Organoide, organähnliche millimetergroße Mikrostrukturen, haben an dieser Stelle ein großes Problem: "Man kann mit ihnen nicht den Durchtritt von Wirkstoffen durch die Blutgefäße ins Gehirn nachbilden", sagt Ute Schepers. "Man weiß dann gar nicht, was beim Durchtritt durch die Blutgefäße mit den Wirkstoffen passiert." Können sie überhaupt die Blut-Hirn-Schranke passieren?

Organoide als Lösung

Hier sorgen die Organchips für Abhilfe, denn mit ihnen lässt sich das Zusammenspiel zwischen Blutgefäßen und Hirngewebe nachbilden. Mittels tierischer Zellen haben etwa der Bioingenieur Yeoheung Yun von der North Carolina A&T State University und seine Kollegen eine Blut-Hirn-Schranke rekonstruiert.

Sie testeten an der Schranke sogenannte Organophosphate. Diese können als Nervengift oder als Pestizid eine fatale Wirkung auf den Menschen haben. Denn sie hemmen die Wirkung des Enzyms Acetylcholinesterase, das normalerweise den erregenden Neurotransmitter Acetylcholin im Gehirn abbaut. Kann Acetylcholin nicht mehr abgebaut werden, sammelt sich der Botenstoff an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen.

Dadurch kommt es zu einer Dauererregung im Gehirn, die Muskeln kontrahieren unkontrolliert, was anschließend zu Lähmungen führt. Bislang versuchte man im Tiermodell, den genauen Weg und die Wirkung von Organophosphaten nachzuzeichnen, um eines Tages medikamentös gegensteuern zu können.

Künstliche Blut-Hirn-Schranke

Doch auch die künstliche Blut-Hirn-Schranke von Yun und seinen Kollegen erwies sich als nützlich, um die Wirkung von Organophosphaten nachzuvollziehen: Die Organophosphate störten die Intaktheit der Blut-Hirn-Schranke, drangen durch sie hindurch und hemmten die Aktivität der Acetylcholinesterase.

Da es sich bei den verwendeten Zellen um tierische Zellen handelt, wisse man nicht, ob die untersuchte Wirkung beim Menschen ähnlich ist, so Peter Ertl. "Aber immerhin kann man die Daten dadurch sehr gut mit einem Tiermodell validieren – das heißt, das Modell könnte eventuell Tierversuche ersetzen."

Die derzeitigen Grenzen von Hirnchips sollte man aber auch nicht unter den Teppich kehren. "Die meisten Modelle der Blut-Hirn-Schranke verfügen nicht über runde Blutgefäße", sagt Ute Schepers. Sie und ihre Kollegen haben selbst eine Blut-Hirn-Schranke gebastelt und patentieren lassen.

Realistische Vorhersagen

Und sie konnten zeigen, dass die Form der Blut-Hirn-Schranke bei der Dichtigkeit eine Rolle spielt. "In runden Blutgefäßen werden deutlich mehr Transportproteine gebildet, die Gifte und Wirkstoffe sofort wieder in das Blutgefäß ausschleusen, bevor sie das Hirn jemals erreichen." Nur mit solchen runden Blutgefäßen auf den Organchips lässt sich also wirklich realistisch vorhersagen, ob potenzielle Wirkstoffe die Barriere des Gehirns überwinden.

Ein anderes Problem sind die induzierten pluripotenten Stammzellen, die auf den Organchips als Nervenzellen fungieren. "Diese 'Neuronen' verhalten sich noch nicht so wie echte Neurone", so Schepers. Warum das so ist, ist noch nicht geklärt. Es wird aber viel daran geforscht, um eines Tages voll funktionsfähige Neurone zu erhalten.

Trotz dieser aktuellen Grenzen fällt das Fazit von Ute Schepers positiv aus: Man könne jetzt schon mit den Organchips arbeiten und sie für verschiedenste Anwendungen sinnvoll einsetzen. (Christian Wolf, CURE, 18.4.2019)