Ludwig Kramer leitet die Abteilung für Gastroenterologie im Krankenhaus Hietzing in Wien.

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Der Experte empfiehlt Lebensmittel, die die Vielfalt der Darmbakterien fördern.

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STANDARD: Immer mehr Menschen klagen, dass sie glutenhaltige Getreidesorten wie Weizen, Roggen oder Dinkel nicht vertragen. Ist Zöliakie tatsächlich häufiger geworden?

Kramer: Dazu gibt es mittelfristige Daten. Es wurden beispielsweise Rekruten der US-Army zwischen 1950 und 2000 miteinander verglichen und festgestellt, dass mit der Zeit die Antikörper im Blut, die auf eine Glutenunverträglichkeit hinweisen, um das Vierfache gestiegen sind.

STANDARD: Was ist der Grund für diesen Anstieg?

Kramer: Der Anbau von stark glutenhaltigen Weizensorten hat zugenommen, weil sie industriell und maschinell sehr gut verarbeitet werden können. Dadurch ist die Glutenexposition der Bevölkerung deutlich höher als früher. Darüber hinaus wurde das amerikanische, inzwischen auch das europäische Essverhalten stärker weizenlastig. Hingegen ging der Konsum von Kartoffeln, aber auch glutenfreier Getreidesorten wie Hirse und Mais, zurück.

STANDARD: Wie entsteht eine Zöliakie?

Kramer: Für Zöliakie ist eine genetische Voraussetzung des sogenannten HLA-Systems notwendig. Zusätzlich braucht es Faktoren, die eine Immunreaktion auslösen. Studienergebnisse der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Darmbakterien mitentscheiden, ob jemand, der eine genetische Disposition für diese Erkrankung hat, auch tatsächlich eine Zöliakie entwickelt.

STANDARD: Inwiefern spielt das Mikrobiom eine Rolle?

Kramer: Beispielsweise haben Kinder, die per Kaiserschnitt geboren wurden, ein erhöhtes Zöliakie-Risiko, da sie während der Geburt nicht mit den Vaginalkeimen der Mutter in Kontakt gekommen sind. Dieser frühe Kontakt mit mütterlichen Bakterien fördert die Vielfalt der Darmkeime und reduziert die Immunaktivierung. Auch der frühe Einsatz von Antibiotika, der sich negativ auf die Darmflora auswirkt, erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine Glutenunverträglichkeit. Zudem wachsen Kinder zunehmend in einem Umfeld auf, das fast klinisch rein ist. Heute sind die meisten Menschen einer weitaus geringeren Bakterienvielfalt ausgesetzt als vor 40 oder 50 Jahren.

STANDARD: Eine echte Zöliakie ist relativ selten, die Prävalenz liegt in Europa bei maximal einem Prozent. Warum greifen dennoch so viele Menschen zu glutenfreien Produkten?

Kramer: Viele glauben, dass sie sich dadurch gesünder ernähren. Eine komplett glutenfreie Ernährung bringt gesunden Menschen aber absolut nichts. Mit solchen Produkten verdienen die Industrie und der Handel. Was mehr Profit verspricht, wird auch hergestellt – in den USA wird sogar Mineralwasser als "glutenfrei" vermarktet. Was darüber hinaus nicht vergessen werden darf: Es gibt auch eine Nicht-Zöliakie-Glutenunverträglichkeit. Solche Menschen vertragen Weizen in größeren Mengen nicht, bekommen davon Blähungen und Bauchschmerzen. Der zentrale Punkt ist hier nicht, glutenhaltige Lebensmittel komplett wegzulassen, sondern zu reduzieren.

STANDARD: Was sollte man essen?

Kramer: Eine Mikrobiom-orientierte Ernährung, also natürliche Lebensmittel, die die Vielfalt der Darmbakterien fördern. Wir kommen mit einem sehr überschaubaren Spektrum an Bakterien auf die Welt, das sich bis zum vierten Lebensjahr vollständig entwickelt und im hohen Alter wieder zurückbildet. Wichtig ist, dass der Darm von möglichst vielen unterschiedlichen Keimen besiedelt wird. Ihre Reduktion, auch Dysbiose genannt, ist ein Risiko für unterschiedliche Krankheiten.

STANDARD: Welche Nahrungsmittel sind gut für die Darmflora?

Kramer: Zum Beispiel Speisen, die bakteriell abbaubare komplexe Kohlenhydrate enthalten. Diese auch als Präbiotika bezeichneten Ballaststoffe finden sich beispielsweise im Kartoffelsalat, kalten Reis oder abgekühlten Nudeln. Die darin enthaltene retrogradierte Stärke ist nicht wasserlöslich und kann von den Verdauungsenzymen kaum gespalten werden. Im Dickdarm wird sie bakteriell fermentiert und dient dann den gesundheitsfördernden Darmbakterien quasi als Jausenpaket.

STANDARD: Haben Probiotika einen positiven Einfluss auf die Darmflora?

Kramer: Der natürliche und weitaus effizientere Weg ist ausreichend Präbiotika über die Ernährung aufzunehmen und dadurch den körpereigenen gesundheitsfördernden Bakterien eine Nahrungsgrundlage zu bieten. Bakterien in Pulverform überleben oft schon die Magensäure nicht, ihre Wirkung ist daher entsprechend eingeschränkt. Bakterien zu schlucken ist ein riesiger Markt. Die Keime kommen aber nicht dort an, wo sie hinsollen. Zumindest haben die meisten Studien gezeigt, dass das Einnehmen von Probiotika relativ wenig bringt.

STANDARD: Was wirkt sich negativ auf die Darmflora aus?

Kramer: Die Western Diet mit viel Fett, Zucker, Fastfood und Fertiggerichten. Studien zeigen, dass der hohe Konsum von industriell hochverarbeiteten Produkten die Zusammensetzung des Mikrobioms aus dem Gleichgewicht bringt und eine Bakterienarmut im Verdauungstrakt hervorruft. Beim Vergleich der Mikrobiotika im Darm von europäischen Stadt- und afrikanischen Landkindern konnte beispielsweise beobachtet werden, dass spezielle Darmbakterien, sogenannte Bacteroidetes, deren Vermehrung durch eine fettreiche Ernährung begünstigt wird und die mit der Entstehung von Darmkrebs in Verbindung gebracht werden, im Verdauungstrakt der europäischen Kinder weitaus häufiger vorkommen.

STANDARD: Dann lieber doch viel Obst und Gemüse?

Kramer: So einfach ist das nicht. Gegen Obst und Gemüse ist nichts einzuwenden. Viel darf man sich davon aber nicht erwarten, wie die EPIC-Studie gezeigt hat. In dieser von der EU geförderten Beobachtungsstudie wurde die Wirkung von fünf Mal täglich Obst und Gemüse auf das Krebsrisiko gemessen. Mit Ausnahme von Subgruppen wie Krebsformen durch Rauchen und Alkohol konnten nur wenig signifikante Effekte festgestellt werden.

STANDARD: Welche Ernährungsstil empfehlen Sie?

Kramer: Alles, was einem schmeckt, regional verfügbar ist und nicht zu sehr industriell verarbeitet ist. Seit diese Hochindustrialisierung der Lebensmittelbranche eingesetzt hat, haben auch die Verdauungsprobleme zugenommen. Was noch wichtig ist: Ernährungspausen einlegen – viele kleine Mahlzeiten am Tag führen direkt in die Überernährung. (Günther Brandstetter, 4.4.2019)