"Große Debatte" oder "großes Blabla": Die Einschätzungen von Macrons "grand débat" differieren.

Foto: APA / AFP / Marin

Es war eine eindrückliche Lektion gelebter Demokratie: 500.000 Franzosen beteiligten sich seit Jänner an über 10.000 Veranstaltungen des "grand débat", den Präsident Emmanuel Macron zur Eindämmung der Gelbwestenproteste ausgerufen hatte. Und an diesen Versammlungen, in den Rathäusern und via Internet wurden fast zwei Millionen schriftliche Kommentare hinterlegt – Vorschläge, Bürgeranliegen, viele konkrete Forderungen.

Zum Abschluss der zweimonatigen Phase zog Premierminister Edouard Philippe am Montag Bilanz. Er stützte sich dabei auf eine Schnellauswertung dieser "Beschwerdehefte" durch vier Umfrageinstitute (Opinion Way, Roland Berger, Bluenove und Cognito); im Mai soll dann alles öffentlich zugänglich werden. Wie Philippe im Pariser Grand Palais vor mehreren hundert Politikern und Würdenträgern ausführte, "zeigt die Debatte klar auf, dass wir die Steuern stärker und schneller senken müssen". Trotz der Bemühungen seiner Regierung hätten die Franzosen heute eine "fiskalische Nulltoleranz" – also keinerlei Verständnis für neue Steuern.

Anschub durch Gelbwesten

Philippe machte noch keine konkreten Ankündigungen; diese überlässt er dem Staatschef, der voraussichtlich ab nächster Woche und laut Insidern auf gestaffelte Weise "starke Entscheide" ankündigen will. Der von den konservativen Republikanern kommende, als gemäßigter Liberaler geltende Premier gab aber bereits die Stoßrichtung vor. Indem er neue Steuersenkungen verspricht, nimmt er die ursprüngliche Forderung der Gelbwesten auf: Die Bewegung kam ins Rollen als immer mehr Autofahrer gegen eine als "Ökosteuer" verkaufte Erhöhung der Treibstoffabgabe protestierten.

Auf die später dazugekommenen Kaufkraftanliegen wie Lohnerhöhungen oder Sozialhilfe ging Philippe am Montag kaum ein. Auch die Einführung der von Macron abgebauten Vermögenssteuer nannte er in seiner kurzen Rede nicht. Diese Forderung kommt in den Beschwerdeheften offenbar auch sehr prominent vor, wie Eingeweihte berichten. Macron hat aber die Wiedereinführung dieser Reichensteuer schon mehrfach kategorisch ausgeschlossen.

Vor allem von links hagelt es deshalb Kritik an Philippes Auftritt. Die Sprecherin der Partei "Unbeugsames Frankreich", Danielle Simonnet, wirft dem Premier vor, er verdrehe die Forderungen der "gilets jaunes": "Dort, wo das Volk von Steuergerechtigkeit spricht, antwortet Philippe mit Steuersenkungen; dort wo das Volk "service public" will, verkündet er den Abbau von Staatsausgaben."

Sozialer Graben

Dass in den Beschwerdeheften nicht soziale Anliegen dominieren, sondern die Forderung nach Steuersenkung, erklären sich Politologen mit dem sozialen Graben durch Frankreich: Bei den lokalen Diskussionsabenden und den Einträgen in die Beschwerdehefte waren vor allem gesetztere, besser situierte und politisch eher gemäßigtere Bürger zu sehen – trotz vieler Ausnahmen. Die Gelbwesten, die eher der unteren Mittelklasse zugerechnet werden, boykottierten hingegen die "Macron-Show", wie sie die Veranstaltungen nannten.

Nicht nur die Linke wirft Macron deshalb vor, den "grand débat" als undeklarierte Kampagne vor den Europawahlen im Mai zu benützen. Der Republikanerchef Laurent Wauquiez tat Philippes Auftritt als "großes Blabla" ab, und Jean-Lin Lacapelle von der Le-Pen-Partei "Nationale Sammlung" sagte voraus, der "gelbe Funke" werde bald wieder zünden. Am vergangenen Samstag waren landesweit nur noch 22.000 "gilets jaunes" auf die Straße gegangen – ein Minusrekord nach 280.000 Demoteilnehmern im vergangenen November.

Was die wichtige Gelbwesten-Forderung nach einem "Referendum durch Bürgerinitiative" (RIC) betrifft, blieb Philippe vage. Er meinte nur, dass die Franzosen mehr demokratische Beteiligung, Transparenz und Effizienz wünschten. Dass Macron eigentliche Volksinitiativen zulassen wird, scheint deshalb unwahrscheinlich. (Stefan Brändle aus Paris, 8.4.2019)