Migranten und Flüchtlinge in einem Lager vor Ausbruch der Kämpfe um Tripolis. Mittlerweile sind viele Einrichtungen unbewacht.

Foto: Mahmud TURKIA / AFP

In Libyen eskaliert die Gewalt. Das sagte der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Ghassan Salamé, nach Luftangriffen auf den einzigen funktionierenden Flughafen des Landes. Die Truppen von General Khalifa Haftar verteidigten sich gegen den Vorwurf, mit der Attacke auf die zivile Einrichtung in Tripolis humanitäres Recht verletzt zu haben. Ziel des Angriffs sei ein Militärflieger gewesen.

Vertreter der Vereinten Nationen schätzen, dass durch die jüngsten Kämpfe um die Hauptstadt mindestens 3.400 Menschen fliehen mussten. Sie befürchten, dass diejenigen, die in ihren Häusern bleiben, von lebenswichtigen Versorgungen abgeschnitten werden. Außerdem zeigt sich eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in einem Statement an den STANDARD besorgt über die Lage der Flüchtlinge und Migranten in den Auffanglagern in der Kampfzone. "Wir haben Berichte erhalten, wonach in manchen Lagern wie Ain Zara und Quaser Ben Gashir die Wachen ihre Posten verlassen haben", schreibt Shabia Mantoo. Nahrungsmittel würden in einem weiteren Lager zur Neige gehen. Die Menschen seien ängstlich und müssten in Sicherheit gebracht werden, so Mantoo.

"Konsequenz der EU-Politik"

Auch die britische Journalistin Sally Hayden steht in Kontakt mit Migranten und Flüchtlingen in den Lagern. Auf Twitter schreibt sie von 6.000 Personen, die in der libyschen Hauptstadt in solchen Einrichtungen eingeschlossen seien. "Sie sind dort als direkte Konsequenz der EU-Politik", fügt Hayden hinzu.

Der Tweet der britischen Journalistin.

Damit gemeint sind die Rückführungen von Menschen, die von der libyschen Küstenwache im Mittelmeer gerettet und nach Libyen in Auffanglager gebracht werden. Seit Jahren gibt es Berichte über menschenunwürdige Zustände in den Einrichtungen. Für Experten und Hilfsorganisationen ist es illegal, Menschen nach einer Seerettung nach Libyen zu bringen. Eine Rettung muss an einem "sicheren Ort" abgeschlossen werden. Das krisengeschüttelte Libyen zählt nicht als solcher.

Libyen kein sicherer Ort

Das ist auch eigentlich die Meinung der Europäischen Union. Doch vor wenigen Tage sorgte ein Brief der Generaldirektorin für Migration und Inneres in der EU-Kommission an den Direktor der Grenzschutzagentur Frontex für Verwunderung. Darin pries Paraskevi Michou die Arbeit der libyschen Küstenwache und nannte auch die Rückführungen nach Libyen. Die Einstellung der EU-Kommission in Sachen Rückführungen habe sich aber nicht geändert, schreibt eine Sprecherin auf Anfrage: Libyen sei weiterhin kein sicherer Ort, um eine Rettung abzuschließen.

Der Besatzung des deutschen Hilfsschiffs Alan Kurdi hilft das wenig. Sie befindet sich seit mehreren Tagen mit 64 Geretteten vor Malta. Die Seenotrettungsleitstellen in Malta und Italien verweisen weiterhin auf die Kompetenz Libyens. Und das, obwohl nach den jüngsten Angriffen nicht klar ist, ob die Koordinierungsstelle in Tripolis noch operabel ist. Eine junge Frau wurde wegen eines medizinischen Notfalls mit dem Boot an Land gebracht. "Medikamente, Nahrungsmittel und Wasser werden knapp", sagt der Einsatzleiter, Jan Ribbeck, zum STANDARD. Eine Anfrage an Malta, die Vorräte aufzustocken, blieb noch unbeantwortet. Die Betreiberorganisation Sea-Eye überlegt auch juristische Schritte.

Eine Frau musste von Bord der "Alan Kurdi" gebracht werden.

MSF überlegte Präzedenzfall

Auch Ärzte ohne Grenzen (MSF) überlegte, einen Präzedenzfall zu schaffen, um die ursprünglichen Prinzipien für Such- und Rettungseinsätze wiederherzustellen. Dazu sollte das Hilfsschiff Prudence reaktiviert werden, das unter italienischer Flagge unterwegs war. "Die Besatzung der Aquarius wurde einmal mit Waffen bedroht, Gerettete an die Libyer zu übergeben", sagt die Leiterin der MSF-Rechtsabteilung, Françoise Bouchet-Saulnier, dem STANDARD: "Hätten wir von der Prudence unter Zwang die Menschen auf ein libysches Boot transportiert, hätte Italien gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen." Mit der Aquarius unter der Flagge Panamas wäre der Fall zu schwach gewesen. "Doch uns war klar, dass das zu gefährlich wäre, und haben es verworfen", sagt sie.

Hernan del Valle, ehemaliger Leiter der Abteilung für humanitäre Angelegenheiten, kann sich noch an den Moment erinnern, als die Stimmung gegenüber privaten Rettern gekippt ist: "Das war nach den Anschlägen in Paris im Jahr 2015, obwohl klar war, dass die mit den Rettungen im Mittelmeer nichts zu tun haben." Man sei vom "Held zum Sündenbock" geworden. Und das, "obwohl ganz Europa die Bilder aus den libyschen Lagern kennt. Ich verstehe diese moralische Apathie nicht." (Bianca Blei, 9.4.2019)