Sieht Chinas Social-Credit-System als Gefahr für die Menschenrechte – und den EU-Datenschutz als Chance: Michael Lysander Fremuth.

Foto: Andy Urban

Wien – Als Nachfolger der Gründer des Wiener Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte (BIM), Manfred Nowak und Hannes Tretter, steht der 40-jährige Deutsche Michael Lysander Fremuth seit 1. April 2019 dem renommiertesten Menschenrechtsinstitut Österreichs vor. Er will die Stärken des BIM ausbauen "und ein Stück proaktiver an die Öffentlichkeit gehen" – über Facebook und Twitter sowie mittels Publikation von Stellungnahmen zu menschenrechtsrelevanten Themen auf der BIM-Homepage (//bim.lbg.ac.at).

Fremuth ist gleichzeitig Professor für Grund- und Menschenrechte an der Uni Wien, was den Verlust der Menschenrechtsprofessur nach der Pensionierung Nowaks im Jahr 2016 wettmacht.

STANDARD: Die Menschenrechte befinden sich weltweit in der Krise. In Österreich hängt ihnen oft der Ruf an, nicht realitätsfit zu sein, etwa im Umgang mit Flüchtlingen. Was sagen Sie zu dem Abgehobenheitsvorwurf?

Fremuth: Ich entgegne: Menschenrechte sind absolut nicht abgehoben! Natürlich haben sie eine besondere Schutzfunktion für Minderheiten, von Flüchtlingen über religiöse Gruppen hin zu LGBTIQ. Doch sie schützen auch die Rechte der Mehrheit. Nehmen wir etwa den Datenschutz. Der geht jeden und jede etwas an, sobald er oder sie ein Handy oder einen Computer benutzt.

STANDARD: Gerade der Datenschutz ist aber nicht unumstritten. In Wirtschaftskreisen werden etwa die in der EU geltenden Regeln als überbordend und unternehmensfeindlich bezeichnet. Verstehen Sie das?

Fremuth: Ja, Menschenrechte können durchaus mit ökonomischen Interessen kollidieren – aber sie sind es wert. Wir sollten auf Tim Cook hören, den Apple-Chef, der die Datenschutzregelungen der EU zum globalen Maßstab erheben möchte. Das zeigt, dass wir in Europa sogar eine Vorreiterrolle einnehmen können – etwa im Verhältnis zur Volksrepublik China mit ihrem Social-Credit-System (Anm.: Rating- und Scoring-System für das soziale und politische Verhalten von Personen, Firmen und NGOs). Das wird nicht nur den Schutz der Daten, sondern auch die Meinungs-, Religions- und Bewegungsfreiheit der chinesischen Bevölkerung einschränken, noch deutlicher als bisher.

STANDARD: Wie sehr werden diese Entwicklungen den Stand der Menschenrechte international schwächen?

Fremuth: Sie werden sehr bestimmend sein. Durch das wachsende Selbstbewusstsein ökonomisch und politisch potenter Staaten mit abweichenden Vorstellungen wie China gerät die Universalität der Menschenrechte ins Wanken. Über den Vorwurf des Eurozentrismus der Menschenrechte kann man trefflich streiten. Aber die Menschenrechtslage im Land selbst wird als innere, souveräne Angelegenheit bezeichnet. Da waren wir auch international schon einmal weiter.

STANDARD: Das Argument einzelstaatlicher Souveränität in Menschenrechtsfragen hört man aber auch aus den USA und der EU. Man nehme etwa Ungarn und Polen.

Fremuth: Das stimmt, aber in der EU leben wir noch in einer menschenrechtlich äußerst privilegierten Situation. Schon im EU-Vertrag ist die unionsweite Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben, und die EU verfügt über eine eigene Grundrechte-Charta. Ferner gibt es aktuell Vorschläge, einzelstaatlichen Verletzungen der EU-Werte vorzubeugen, etwa durch turnusmäßige Menschenrechtsüberprüfungen aller Mitgliedstaaten.

STANDARD: Ihre Vorgänger als wissenschaftliche Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte (BIM), Manfred Nowak und Hannes Tretter, haben sich zu derlei Themen häufig zu Wort gemeldet. Werden Sie es auch so halten?

Fremuth: Durchaus möchte ich an die Pionierleistung der beiden anknüpfen und mich in gesellschaftliche Debatten einbringen. Zugleich sehe ich mich in einer Vermittlerrolle zu den vielen hochqualifizierten Expertinnen und Experten des BIM. Sie sollen sich weiterhin und verstärkt öffentlich äußern, denn eine Teilhabe der Wissenschaft und Forschung an gesellschaftlichen Diskursen ist sehr wichtig. Wir nennen das Translation, Übersetzung. Hier nehmen wir auch innerhalb unserer Trägerorganisation, der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft, eine Vorreiterrolle ein.

STANDARD: Inwiefern?

Fremuth: Indem wir wissenschaftliche Ergebnisse in die gesellschaftlichen Diskurse und die praktische Anwendung speisen – auch, um auf diese Art und Weise Wechselwirkungen zu erzielen. Das nennen wir anwendungsorientierte Wissenschaft: Viele Geisteswissenschaften, die Rechtswissenschaften zumal, betrachten sich häufig nicht als empirisch. Wir denken, dass man durch den offenen Dialog auch Erkenntnisse aus der Praxis für die Wissenschaft operabel machen kann.

STANDARD: Was meinen Sie damit konkret – etwa die Zusammenarbeit des BIM mit NGOs und Institutionen wie der Volksanwaltschaft?

Fremuth: Genau, zum einen geht es darum, Personen, die in menschenrechtssensiblen Bereichen arbeiten, durch Informationen und Schulungen zu unterstützen. Zum anderen geht es um die Anwendung unserer Forschungsergebnisse in der Praxis – sei es in der Rechtsprechung und im Strafvollzug, in der politischen Schulbildung oder im Capacity-Building in der EU-Nachbarschaftsregion, um Beispiele zu nennen. Besonders wichtig ist auch die Teilhabe an Diskursen – wobei hier die Grenze zwischen Rechtsanalyse und Rechtspolitik beibehalten werden muss.

STANDARD: Was heißt das?

Fremuth: Dass wir unterscheiden müssen, was der Menschenrechtsschutz zwingend gebietet – und wo politische Spielräume bestehen, weil die Menschenrechte nicht auf alle gesellschaftlichen Fragen abschließende Antworten geben.

STANDARD: Was aber tun, wenn die politischen Spielräume über Gebühr ausgereizt werden? Etwa wenn es aus der FPÖ heißt, Politiker dürften sich "niemals damit abfinden, dass Gesetze uns in unserem Handeln behindern"?

Fremuth: Als Jurist und Menschenrechtler entgegne ich: Das Recht zieht dem politischen Handeln Grenzen, und das ist eine zentrale Errungenschaft des Rechtsstaats, die niemand infrage stellen sollte. Andererseits haben die Menschenrechte kein Parteibuch. Ich möchte mit allen sprechen, auch dort, wo es möglicherweise wehtut.

STANDARD: Sehen Sie das BIM hier auch als Teil der Zivilgesellschaft?

Fremuth: Ja – aber in einer Doppelfunktion. Wir leisten qualitativ hochwertige Forschung und stellen die Ergebnisse staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft zur Verfügung. Auf dieser Grundlage werden wir in weiterer Folge mitdiskutieren und unsere Brückenfunktion wahrnehmen. (Irene Brickner, 10.4.2019)