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"Wir können nicht länger in einer Gesellschaft leben, in der die Kommunikation zwischen zwei Menschen von einer dritten Person finanziert wird, indem sie die anderen beiden manipuliert."

Foto: REUTERS/Dado Ruvic/Illustration

Schuld sind die 1990er: Die Bewunderung und Mystifizierung von Tech-Entrepreneuren und die gleichzeitige Haltung, dass alles im Internet kostenlos verfügbar sein muss, haben zu einem Wirtschaftsmodell geführt, das auf Werbung aufsetzt. Google wurde so geboren und später Facebook. Kostenlos und werbefinanziert. Die für Investoren wie Nutzer aufregende Mutation des klassischen Werbemodells. Ein System, das sich jedoch aufgrund des technologischen Fortschritts und der Optimierung zu einer Maschinerie der Verhaltensmodifikation gewandelt hat, wie der Informatiker, Autor und Virtual-Reality-Pionier Jaron Lanier festhält. Aus einem Start-up-Konzept ist in nur wenigen Jahrzehnten eine "Manipulationswirtschaft" entstanden, die von wenigen "Verhaltensänderungsimperien" dominiert wird.

Eine Entwicklung, die Lanier als "tragischen globalen Fehler" bezeichnet, der sich durch das rasante Wachstum der digitalen Ökonomie zu einem veritablen gesellschaftlichen Problem ausgeweitet hat. Milliarden Menschen würden heute deshalb auf Facebook, Instagram und Co wie Pawlow'sche Hunde zwischen Like und Dislike bzw. Belohnung und Bestrafung einem Reiz nach dem anderen nachlaufen. Eine endlose Feedbackschleife, die kurzfristige Emotionen befeuert und nicht dem langfristigen Aufbau positiver Gefühle zugutekommt. Stellt sich die Frage, wie wir aus dieser Manipulationshölle wieder herauskommen. Lanier zufolge könnte es zwei Lösungen für dieses Problem geben.

Schon gehört? Edition Zukunft, der Podcast über das Leben und die Welt von morgen.

Allgemeinwohl kostet etwas

Einerseits könnten Konzerne versuchen, ihre Angebote nach dem Modell von Videostreamingdiensten zahlungspflichtig anzubieten. Dadurch würde die Nutzung in Zukunft zwar etwas kosten, doch man erhielte dann als Nutzer vielleicht auch kein ungesundes Fastfood für schnelle Emotionen wie Verschwörungstheorien, Sensationsmeldungen und Trolle mehr, sondern wertvolle Inhalte, die das eigene Leben wirklich bereichern. Laut dem Informatiker wäre dieser Weg eine essenzielle Transformation, die zum Allgemeinwohl beitragen würde: "Wir können nicht länger in einer Gesellschaft leben, in der die Kommunikation zwischen zwei Menschen von einer dritten Person finanziert wird, indem sie die anderen beiden manipuliert."

Verkäufer der eigenen Daten

Wenngleich dieser Wandel von Konzernen wie Nutzern ein beträchtliches Umdenken abverlangen würde, stimmt Lanier mit einer anderen Lösung noch ferner klingende Zukunftsmusik an. Dem Visionär schwebt eine Welt vor, in der Facebook, Google und Co die Menschen nicht mehr als kostenlose Quelle für lukrative Daten ausbeuten, sondern für diese Daten zahlen. Eine Idee, die speziell im Hinblick auf hochautomatisierte Gesellschaften immer konkretere Formen annimmt.

"Die Unterscheidung zwischen Arbeit und Kapital wird in Zukunft immer schwerer zu verstehen sein und wird vielleicht sogar nicht mehr existieren", sagt Lanier in einem aktuellen Podcast der Technologieseite The Verge. "Wenn ich über die Wichtigkeit dessen spreche, dass Menschen für ihre Daten bezahlt werden müssen, meine ich nicht eine spezifische Sparte an Kreativen wie Musiker oder Journalisten, sondern die breite Masse und die Beziehung zwischen Menschen und Technologie in der Zukunft. Denn wenn wir letztendlich auf eine Welt zusteuern, in der Automation weit verbreitet ist, und es eine ganze Menge an Programmen gibt, die wir als künstliche Intelligenz verstehen, welche Rolle bleibt dann für die Menschen? Die aufrichtige Bewertung wäre, dass KI Daten benötigt und diese Daten von Menschen kommen, und daher müssten Menschen in einer fortschrittlichen Welt für diese Daten bezahlt werden."

Jaron Lanier in einem Ted Talk 2018 über "Manipulationswirtschaft" und "Verhaltensänderungsimperien".
TED

Die Dystopie abwenden

Der Autor von Büchern wie "You Are Not a Gadget" oder "Who Owns the Future?" sieht in diesem Modell auch ein würdevolleres Gesellschaftssystem als die Etablierung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das im Hinblick auf massenhafte Automation zunehmend diskutiert und in manchen Ländern bereits erprobt wird. "Wenn wir sagen, dass die Lieferung der Daten, die die Maschinen benötigen, keine echte Arbeit ist und man nicht dafür bezahlt wird und die (dann arbeitslosen) Menschen anstelle dessen von einer Art Wohlstandsprogramm leben müssen, dann ist das extrem entmenschlichend und verlogen. Das führt zu einer Welt, die die Menschen entwertet und sie sich nutzlos fühlen lässt, und das ist eine schreckliche Vision der Zukunft", so Lanier.

"Viele Daten, die man heute auf sozialen Medien oder über die Internetsuche hergibt, werden für die Entwicklung von KI-Algorithmen verwertet, die uns sukzessive aus unseren Jobs drängen. Und dafür sollte man bezahlt werden. Dafür sollte man anerkannt werden. Darauf sollte man stolz sein können. Und man sollte auf diese Weise darin ermutigt werden, bessere Daten zu liefern, denn das ist die Zukunft, auf die wir zusteuern wollen."

Dienste, die Menschen respektieren

Um ein solches Wirtschaftssystem zu errichten, bedürfe es mehrerer Bausteine. Einer davon sei laut Lanier die Erschaffung vieler kleinerer Zwischenhändler, die als Vertreter und Puffer zwischen Konzernen und Konsumenten agieren. Dies könnten Universitäten oder auch private Firmen sein. Letztendlich gehe es darum, Schnittstellen zu schaffen, die den Markt für Daten dezentralisieren und den individuellen Bedürfnissen von Datenspendern (Konsumenten) und Datenverwertern (den Konzernen) gerecht werden können.

Diese "Labels" könnten etwa gezielt Gruppen wie Sporttreibende, handwerklich tätige Menschen und Cineasten oder auch Personen, die mit der Kindererziehung oder Altenpflege beschäftigt sind, ansprechen. Die spezifischen Daten, die diese vielen Gruppen zur Verfügung stellen, hätten durch die gezielte Filterung einen echten Wert. Ein System, das Menschen dazu antreiben könnte, selbst in einer Zukunft ohne Jobs, aktiv zu bleiben und Beschäftigung zu suchen.

Teure Daten und der geschützte Markt

Wir seien an Dienste gewohnt, die unsere Daten ganz selbstverständlich kostenfrei abziehen und dafür eine Steigerung an Bequemlichkeit versprechen. Dieses Modell müsste ausgetauscht werden durch eine Welt, in der anerkannt wird, dass Menschen diese Welt kreieren und dafür respektiert gehören.

Lanier könnte sich vorstellen, dass in einer solchen Zukunft Menschen und Märkte im Zusammenspiel den Wert der persönlichen Daten festlegen. Will man dann etwa viel Privatsphäre oder hat einen eher selteneren Erfahrungsschatz, bietet man seine Daten teuer an. Ist man jung und will sich erst etwas aufbauen, könnte man die Daten wiederum günstiger an eine größere Bandbreite an Labels verkaufen.

Jaron Lanier in einem Interview darüber, wie soziale Medien unser Leben ruinieren.
Channel 4 News

Tausende Mikroeinnahmen

Über das gesamte Leben würden sich diesem Gedanken nach möglicherweise tausende Einnahmequellen bilden – bei allen Diensten, die unsere Daten verwerten wollen. Das kann passive Daten genauso umfassen wie Leistungen, die man aktiv anbietet. Um einen potenziellen Wertverfall zu verhindern, brauchte es Zwischenhändler oder Mediatoren, die sich fürs Kollektiv und den Einzelnen einsetzen und eine Ausbeutung von Daten unmöglich machen.

Lanier arbeitet daran, die Details eines solchen Wirtschaftssystems zu definieren. Wie würde dies den Tagesablauf eines Menschen beeinflussen? Wie müsste das User-Interface für eine derartig enge Kopplung von Mensch und Maschinen aussehen? Von welchem Zeitrahmen ist hier die Rede? Von 50 oder 100 Jahren? Fragen, die alle erst beantwortet werden müssen. Klar sei jedoch, dass dafür eine ganze Reihe an Nutzererfahrungen und Diensten kreiert werden müssten, die Menschen als wertvoll erachten. Der Mensch als Produkt gehöre jedenfalls abgeschafft, wollen wir nicht in einer Dystopie der Werbezombies enden ... (zw, 12.4.2019)