Die Einigung der EU-Staats- und Regierungschefs auf eine weitere Verzögerung des Brexits um ein halbes Jahr verschafft allen Beteiligten mehr Luft. Anders als noch vor drei Wochen ist nun für mehr als sechs Monate gesichert, dass es den ungeregelten EU-Austritt nicht geben wird.

Die Wirtschaft im Binnenmarkt, betroffene Bürger, die ihr Leben im Ausland verbringen oder vielleicht schon den Sommerurlaub in Großbritannien planen, können aufatmen. Das gilt auch für Regierungen, die Ende Mai Europawahlen zu schlagen haben, um dann die EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg neu aufzustellen.

Insofern war der jüngste einer Serie von Brexit-Gipfeln erfolgreich: Einen wirtschaftlichen Einbruch braucht wirklich niemand; die EU wird in ihren Funktionen nicht behindert. Die Lähmung in der britischen Innenpolitik, die Penetranz von Politikern und Medien von der Insel, die alle anderen Inhalte in der EU aus reiner EU-Abneigung wegdrücken, nerven genug.

Gestärkt werden damit nur Europas Rechtspopulisten, Nationalisten und Zyniker: Sie sind die geistigen Väter des Brexits, der Dauerdesintegration. Sie wollen die Gemeinschaft schwächen, rückbauen, zerstören. Das sollte man neben allen prozessualen Fragen zum Brexit nie aus den Augen verlieren. Der Zeitgewinn könnte auch dazu dienen, die größere Perspektive zur gemeinsamen Zukunft zurückzuerobern, mehr in den Blick zu rücken.

Eine konkrete Lösung des Problems, wie man aus der Brexit-Falle herauskommt, hat der Sondergipfel jedoch nicht gebracht. Es bleibt völlig offen, warum Premierministerin Theresa May jetzt bessere Chancen haben soll als bisher, für den geordneten EU-Austritt ihres Landes zu sorgen, indem sie für den Deal im Unterhaus eine Mehrheit findet. Inhaltlich gibt es keine Veränderungen.

Die EU kann Mays Regierung dabei auch gar nicht helfen. Es liegt ganz allein an der britischen Politik, den Wunsch der Bevölkerung auf EU-Austritt umzusetzen, die Widersprüche zwischen regierenden Tories und der Opposition der Labour-Partei aufzulösen; oder das Referendum auch nicht umzusetzen, den Brexit abzublasen; oder ein neues Referendum anzusetzen; oder am Ende doch den No-Deal-Bruch zu wagen, den die harten Brexiteers forcieren. Wie Ratspräsident Donald Tusk richtig sagte: Es ist wieder alles möglich im Brexit-Lotto.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 verhielten sich jedenfalls deutlich vernünftiger als May und Jeremy Corbyn in London. Sie zeigten Haltung wie Kompromissfähigkeit, bekräftigten ihre Beschlüsse und die Generallinie: Am Austrittsvertrag wird nicht mehr herumgebastelt. Aber man ist offen für jede Form künftiger Beziehungen.

Die Verantwortlichen in London sollten bald verstehen, dass ihnen jede weitere Verzögerung vor allem selbst schadet. Die Härte, mit der Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auftrat, war nur ein kleines Vorspiel darauf, dass Einigkeit und Zurückhaltung bei den EU-27 langsam bröckeln.

Paris bereitet sich auf eine künftig dominantere Rolle vor, Deutschland als "dritte EU-Großmacht" hält sich vermittelnd in der Mitte, gleicht zu den Briten hin aus. Die übrigen kleineren Staaten orientieren sich gerade neu. Großbritanniens Position wird zunehmend schwächer. Es zeichnet sich deutlich ab, dass die Bereitschaft, den Brexit ständig aufs Neue aufzuschieben, bei den EU-27 zu Ende ist. Noch können die Briten selbst entscheiden, im Herbst wohl nicht mehr. (Thomas Mayer, 11.4.2019)