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Nell Zinks neuer Roman heißt im US-amerikanischen Original "Mislaid", was so viel bedeutet wie "sich vom Falschen flachlegen zu lassen". Die Autorin selbst kommt aus Virginia.

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Nell Zink: extrem belesen und unglaublich lustig.

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"Ich bin ein Sonderfall", so formulierte das Nell Zink am Ende ihrer Lesung neulich beim jährlichen Literaturfestival in Bad Aussee, als sie über sich und ihre sonderbare Sozialisierung als Schriftstellerin erzählte. Aber da hatte die US-amerikanische Autorin, die seit einigen Jahren in einem kleinen Kaff südlich von Berlin lebt, das Publikum schon längst in ihren Bann gezogen.

Ein Sonderfall, das ist die Frau tatsächlich, die mit Der Mauerläufer, ihrem ersten Roman, vor drei Jahren tatsächlich einen kleinen Hype ausgelöst hatte, weshalb die deutschsprachige Feuilleton-Kollegenschaft in Scharen nach Bad Belzig pilgerte, um zu ergründen, wer diese neue, ungewöhnliche US-Stimme am deutschen Literaturhimmel ist.

Diese Autorin ist nicht bloß ungewöhnlich, sie ist auch klug, extrem belesen und unglaublich lustig. Das bezeugt auch Nell Zinks neuer Roman Virginia, der jetzt, Mitte April, auf Deutsch erscheint, die dritte Übersetzung nach Der Mauerläufer und Nikotin. Mislaid heißt das Buch im US-amerikanischen Original, das in den Staaten bereits 2015 erschienen ist und für ihren Literasee-Moderator, den SWR-Mann Carsten Otte, "Literatur wie ein Autounfall" ist. Der Mann hat recht.

"Eigentlich", erzählt Zink beim Interview am Tag vor ihrer Lesung aus Virginia, geht der amerikanische Originaltitel auf ein bekanntes Kindergedicht des Autors von Pu, der Bär, Alan Alexander Milne, zurück, über eine Frau, die verlorengeht.

Zink, lange graue Haare, aber ein wirklich buntes Innenleben, hat längst ihre schwarzen Slipper abgestreift und es sich auf dem grünen Hotelsofa gemütlich gemacht: "She seems to have been mislaid", sagt sie. Aber natürlich gibt es da noch eine weitere Bedeutung, wie bei Zink eigentlich immer: "to get laid" heißt "sich flachlegen lassen". Und "Mislaid" bedeutet also, sich vom Falschen flachlegen lassen.

Dann kam Rachel Dolezal!

Womit wir mitten im Plot dieses rasenden Romans wären. Und nur kurz angerissen, weil man in diese Geschichte am allerbesten ohne viel Vorwissen hineinstolpern sollte: Die eigentlich lesbische Frau Peggy kommt mit einem eigentlich schwulen Mann, dem Literaturprofessor Lee Fleming, zusammen, sie bekommen zwei Kinder, Sohn Byrdie und Tochter Mickey, die Beziehung geht schief, und diese weiße Frau verlässt ihren Mann, versteckt sich vor ihm und nimmt gemeinsam mit der kleinen Tochter eine schwarze Identität an.

Unglaubwürdig, denken Sie? Das dachten US-amerikanische Literaturkritiker und -kritikerinnen zunächst auch, damals im Jahr 2015. Und gerade dann, wenn man fragen möchte, ob diese unglaublich, aber wahre Geschichte von Rachel Dolezal, dieser blonden Amerikanerin mit den Braids und der unnatürlich aussehenden Spray-Tan, die in den Vereinigten Staaten die sogenannte "Transracial"-Debatte auslöste, ihren Roman inspiriert hat, sagt Zink: "Sie war ein absoluter Glücksfall für mich!"

Der Roman war also bereits erschienen, aber Zink hatte mit ihrem Plot ein Glaubwürdigkeitsproblem. "Dann kam Rachel", sagt Zink wirklich gut gelaunt, "und mein Buch war plötzlich hochrelevant."

Klassen- und Rassenunterschiede

Hochrelevant und hochpolitisch ist dieses Buch tatsächlich, außerdem modern, weil es viele Dinge weiterdreht und -denkt, obwohl die Handlung in den 1980er-Jahren spielt. Also worum geht es? Es geht um viel: um Klassen- und Rassenunterschiede, Geschlechter-, Gender- und Identitätspolitik, Eltern und Kinder, Bildung, Sexualität und Feminismus. Ernste und ernst zu nehmende Themen, dennoch liest sich das Buch stellenweise wie eine Komödie. Zink selbst setzt noch eines drauf: "Dieses Buch ist eine Operette", sagt sie: "Es ist Theater."

Auf den Vergleich mit der Operette wäre man selbst nie gekommen. Er macht aber Sinn: Die ein wenig überzeichneten Figuren, der ungestüme Plot und – Vorsicht, Spoiler! – das Happy End. Sehr amerikanisch. Gefällt ihr der Titel für die deutsche Übersetzung? Virginia.

Das ist der Bundesstaat, in dem Nell Zink aufgewachsen ist. Woran denkt sie, wenn davon die Rede ist? "An Kiefernbäume", sagt Zink sehr schnell, aber vielleicht auch deshalb, weil sie jetzt in einer Gegend lebt, wo ähnliche Kiefernbäume wachsen. "Es ist Heimat", sagt Zink, "vielleicht sogar im negativen Sinn, aber es ist alles sehr vertraut!"

Die Leute bilden sich ganz schön was drauf ein, aus Virginia zu kommen, weiß sie – vielleicht ähnlich wie in Bayern. "Das waren alte Südstaatenverhältnisse, die ich dort noch erlebt habe", erzählt sie über den Bundesstaat, der zu den ersten 13 US-Kolonien zählte.

Bis Mitte zwanzig war sie da, war am College, hat dort Philosophie studiert, "dummerweise", sagt Zink, weil dieses Studium "ein klein wenig überholt" sei, hat später als Maurerin am Bau gearbeitet und war immer viel draußen, schon als Kind, um sich dann stückweise aus Virginia weg in Richtung Norden zu bewegen, zuerst nach Washington, D. C., und irgendwann nach New York City.

Geschichtenerzählerin

Man hört Zink gerne zu, während des Interviews und auch am Tag darauf bei ihrer Lesung in Bad Aussee. Weil sie immer eine Geschichte erzählt. Die Leute lieben das. Am allermeisten die Geschichte, wie Nell Zink zum Schreiben kam, wie sie mit fast fünfzig eine Schriftstellerin wurde. Denn "Schreiben und Veröffentlichen sind zwei Paar Schuhe", sagt die Autorin. Geschrieben hat sie fast schon immer, für sich und Freunde, für ihre Schubladen.

Aber noch davor hat sie gelesen, mehr als sie gesprochen hat und schon mit drei, erzählt sie, ihre Eltern haben ihr das so früh beigebracht, "vielleicht um Ruhe vor mir zu haben", sagt sie und lacht ihr kurzes, hartes Zink-Lachen. Ihre Mutter war Bibliothekarin, zehn Bücher pro Woche durfte man da ausborgen, und schnell ging Nell zur Erwachsenenliteratur über, las Der Graf von Monte Christo schon mit zehn.

Sie wusste früh, was das Wort "Eskapismus" bedeutet. Virginia, zumindest landschaftlich ein Paradies, war für sie auch das: Buch lesen und dann raus in die Waldkulisse, wo die Vögel die Schauspieler sind.

Wie ein Märchen

Vögel sind überhaupt das Stichwort, wenn es um Zinks Karriere geht. Sie liebt Vögel, genau wie der US-amerikanische Bestsellerautor Jonathan Franzen. "Ohne ihn würde ich nicht hier sitzen!", sagt sie dem Publikum, weil sie ihm "als alte Besserwisserin" irgendwann einen Brief schrieb.

Zinks gesprochenes Deutsch ist gestochen scharf, geprägt von der deutschen Literatur, die sie seit den 80er-Jahren, als sie zum ersten Mal nach Deutschland kam, immer im Original gelesen hat: Kafka, Musil, Robert Walser. Dazu ihr US-amerikanischer Akzent, der alles noch einmal charmanter macht: "Ich saß also in einer Kellerwohnung im zweiten Stock und schrieb einen Brief an Jonathan Franzen." Dass der nämlich in einem Text über Vögel im Mittelmeerraum den westlichen Balkan vergessen hatte.

Franzen schrieb zurück, gab ihr nicht nur recht, sondern machte ihr, weil er davon, wie der Brief geschrieben war, so begeistert war, ein Angebot: Falls sie jemals ein Manuskript habe, solle sie ihm das bitte schicken. Vier Tage später hatte er Nell Zinks Wallcreeper (Der Mauerläufer) in einer ziemlich fertigen Fassung in seiner Mailbox liegen.

Eine tolle Geschichte. Ein bisschen wie ein Märchen. Und ähnlich wie ihr neuer Roman Virginia, wo vieles, was im Leben kompliziert und schwierig ist, dennoch positiv beschrieben wird. Vielleicht hat es damit zu tun, meint Zink auf dem grünen Hotelsofa, "dass wir im Leben immer die Überlebenden kennen."

Im Laufe ihres 55-jährigen Lebens kannte sie genug Menschen, die es nicht einfach hatten, Drogen vercheckt oder genommen hatten und hinter Gittern saßen oder gar nicht mehr da waren. "Die Leute, die gern ihre Geschichten erzählen, sind nicht die, die alles verloren haben."

Menschen, die Glück haben

Sondern es sind die, die Glück hatten. Wie Lee Fleming von Geburt an oder auch seine Frau Peggy, die ihn verlassen hat. Diese Frau hat sich nicht untergeordnet, auch, mutmaßt die Autorin über ihre Figur, "weil sie sehr früh alleingelassen wurde und ihren eigenen Weg gehen musste. Vielleicht hat diese Peggy da mit mir ein bisschen Ähnlichkeit", sagt Zink: "Die ist so individualistisch, dass man ihr zutraut, an ihren Träumen dranzubleiben."

Auch in Bad Aussee ging Nell Zink untertags raus in die Natur und abends früh zu Bett. Man hat die Vorstellung, dass jemand wie sie dann liest. Aber sie liest nicht immer ein Buch, erzählt sie, hat Phasen, in denen sie eher Zeitung konsumiert, die London Review of Books oder Le Monde diplomatique. Aber im Moment liest sie Der Tod ist ein mühseliges Geschäft von Khaled Khalifa, einem Syrer aus Damaskus.

Von dem Buch sei sie "vollkommen fasziniert", sagt Zink, "aber aus unterschiedlichen Gründen, als der Autor das wahrscheinlich annimmt". Weil es nämlich "abgrundtief sexistisch" ist. Und da ist er wieder, dieses Drehmoment in den Unterhaltungen mit Nell Zink, diese immer neue Perspektive, die man als jemand, der ihr zuhört, einnehmen muss, ein Umstand, der auch beim Lesen ihrer Bücher immer wieder eintritt. Zum großen Glück.

Aber zurück zur Frage: Abends liest sie eigentlich nicht. Abends legt sie sich nieder und dreht das Licht ab. "Ich liege nur da und kann nicht schlafen und langweile mich", erzählt Nell Zink und lacht, und es ist unglaublich unterhaltsam, wie sie das Wort "langweilen" ausspricht mit ihrem tollen Akzent. Sie weiß, dass es ein bisschen masochistisch klingt: "Ich warte einfach auf den gesegneten Schlaf, der mich vor dem Bewusstsein rettet." Wir gönnen ihr das, solange sie weiter so schöne Geschichten schreibt. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 13.4.2019)