Illustration: DER STANDARD / Karner

1. LONDON

Der Stansted Express ist ausgefallen. Signalprobleme, wieder einmal. Flugzeugladungen voller Reisender müssen an diesem Dienstagmorgen mit dem Bus nach Witham, um sich dann im Vorortezug über Chelmsford nach London durchzuschlagen.

Es ist neblig, nasskalt und überwältigend grün draußen. Vor kleinen, properen Häuschen flattern Union-Jack-Flaggen im Wind. In den Auffahrten stehen Nissans im Nieselregen. BBC Radio meldet, dass Theresa May heute auf dem Kontinent weile. Sie besuche Angela Merkel und Emmanuel Macron, heißt es.

Matt Bevington (li.) und Alan Wager vom King’s College.
Foto: Christoph Prantner

"Divorce is made easy", titeln die Morgenblätter. Mays Regierung will das Scheidungsrecht reformieren. Statt wie bisher Schmutzwäsche vor Gericht zu waschen, soll es von nun an genügen, einseitig eine "unüberbrückbare Zerrüttung" festzustellen. Dann sollen Partner eine unglückliche Ehe ohne weiteres verlassen können. Das "blame game" habe ein Ende, schreibt Metro. Wenn es nur überall so reibungslos ginge.

Beim Brexit ist das nicht der Fall. Die britische Regierung mag einen EU-Austrittsvertrag ausgehandelt haben –in Westminster allerdings bringt sie ihn nicht und nicht durchs Parlament. Dreimal ist er bereits durchgefallen.

Die Abgeordneten sind entnervt, und noch mehr die Bürger. Das Land ist gespalten, voller Spannungen und Ressentiments. Weder Brexiteers noch Remainers bekommen, was sie wollen – alle fühlen sich betrogen. Der Brexit ist zu einer Chiffre geworden, einer Chiffre des politischen Systemversagens.

EU als Katastrophe

Parsons Green, Westlondon. Im Le Pain Quotidien treffen einander junge Mütter zu Kaffee und Apple-Crumble. Es ist eine wohlhabende Gegend. 70 Prozent der Bürger haben hier gegen den Brexit gestimmt.

Douglas Carswell war nicht darunter. Der große, schlanke Mittvierziger hat schon im Jahr 2009 einen Antrag auf EU-Austritt im Unterhaus eingebracht. Als einflussreicher Tory und später als Abgeordneter der United Kingdom Independence Party hat er für den Brexit gekämpft, weil die EU für ihn "ein katastrophaler Weg ist, die Angelegenheiten von 500 Millionen Menschen zu regeln". Unter diesem Zentralismus gebe es weder Innovation noch Prosperität.

Der Ex-Abgeordnete Douglas Carswell.
Foto: Christoph Prantner

Carswell war einer der Gründer der Leave-Kampagne. Sein Curriculum ist klassisch für die britische Upper Class: Jugend in Uganda, Geschichtsstudium, Investmentfirma, Buchautor (The End of Politics), Westminster, eigenes Unternehmen – die Datenanalysefirma Disruptive Analytica. Er sieht sich als klassischen Liberalen. Hayek sei sein Lieblingsphilosoph, sagt er. Und: "Wer den Euroskeptizismus in diesem Land verstehen will, muss die Klischeeberichte über Nigel Farage vergessen. Vielmehr geht es um eine grundsätzliche philosophische Differenz in der Frage, wie Gesellschaften organisiert werden sollen."

Theresa May, sagt Carswell, habe dieses Argument nie verstanden. "Sie dachte, die Menschen seien euroskeptisch wegen der Ausländer. Und sie dachte, mit einem Deal mit der EU wäre alles wieder gut. Das ist niederschmetternd idiotisch." Der Brexit sei vielmehr eine "befreiende Kraft", eine "Chance auf nationale Erneuerung", die nun leider in der Hand drittklassiger Politiker sei.

Wie Feinde behandelt

Die Briten hassten es, betont Carswell, dass May andauernd in Brüssel um einen Deal bettle. Der Vertrag sei darauf angelegt, Großbritannien auf ewig in einer Zollunion zu halten. Der Brexit werde dennoch kommen. "Nur noch die Frage über die zukünftigen Beziehungen zur EU ist offen. Und ich fürchte, da sieht es nicht gut aus für euch. Denn Europa hat die Briten wie Feinde behandelt." Auch die "Dummheit der europäischen Eliten" sei atemberaubend. Sie dächten, sie könnten London kontrollieren. Aber in einem neuen Haus Großbritannien würden "die Möbel anders arrangiert".

Am King’s College – Carswells Alma Mater – brüten Matt Bevington und Alan Wager indes über Excel-Tabellen. In einem kleinen, fensterlosen Büro bereiten die Forscher für das Policy Institute der Londoner Uni Fokusgruppen vor, in denen den Briten demnächst politisch auf den Puls gefühlt werden soll.

Mit Carswell sind sie in kaum einem Punkt einer Meinung – außer in einer Beobachtung: Unter den Bürgern bestehe Einigkeit, dass dieses Land einen fundamentalen Wandel seiner Institutionen und seines politischen Systems brauche. Das sei ein unvorhergesehenes Ergebnis des Brexits: "Der ist nur ein Symptom. Die EU ist nicht das wahre Problem der Menschen. Sie fühlen sich vielmehr nicht repräsentiert, sind unzufrieden und spüren einen Mangel an Kontrolle. Alle diese Themen waren bisher nicht auf der Agenda."

Nik Gowing
Foto: Christoph Prantner

Nik Gowing geht in seiner Analyse noch weiter. "Die politische Klasse hat kein Gespür mehr dafür, was die Bürger fühlen", sagt der ehemalige Anchorman bei BBC World News. Viel sei dieser Tage die Rede von Populismus. Aber die Anti-Establishment-Stimmung sei mehr als das. Es gehe um den Versuch, die Globalisierung aufhalten, die Modernisierung zurückdrehen zu wollen.

Gowing, der heute ein Projekt namens "Think the Unthinkable" leitet, spricht von einem "Pushbackismus", der Gesellschaften in ihrem Innersten angreift: "Die Menschen haben gute Jobs, schöne Autos, nette Häuser – und doch begehren sie gegen das auf, was ihnen diese Annehmlichkeiten ermöglicht hat."

Dieser Prozess ereigne sich unglaublich schnell, konstatiert Gowing. Weder Politiker noch Wirtschaftsführer könnten bisher damit umgehen. "Es dreht sich um die Stabilität des Vereinigten Königreichs. Es geht um die Aushöhlung der Mittelklasse. Der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, zerbröselt. Stattdessen stellt sich eine neue Bösartigkeit ein und das Gefühl, dass diese Bösartigkeit gut ist."

Regierung und Demokratie seien bis an den Rand der Selbstzerstörung unterminiert. "Vielleicht sollten wir nicht nur das Undenkbare denken, sondern auch das Abstoßende", raunt der 67-Jährige, der in einem langen Journalistischen Leben schon einiges gesehen hat, finster in ein Glas Weißwein im Sofitel am Waterloo Place.

Als May Dienstagabend zurückkehrt, hat ihr auch Brüssel den Wunsch nach mehr Glaubwürdigkeit mitgegeben. Der IWF lässt derweil wissen, bis 2021 könnte ein No-Deal-Brexit 70 Mrd. Pfund Wirtschaftsleistung auslöschen.

2. BLACKPOOL

Im The Bridge herrscht – "for fuck’s sake" – ziemliche Nervosität. Dieser Mittwoch ist ein entscheidender Tag. Heute geht es darum, ob United in Manchester in der Champions League den FC Barcelona schlägt. Dass die Premierministerin zeitgleich in Brüssel erneut um einen Aufschub für den Brexit bittet, wissen im Pub in Blackpool die wenigsten.

Der Pub "The Bridge" in Blackpool.
Foto: Christoph Prantner

Mehr als zwei Drittel der Wähler haben in der Stadt für den EU-Austritt gestimmt. Den sollen die Politiker endlich liefern, weil "Brüssel viel zu viel anzuschaffen hat", sagt Daniel. Er betreibt hier ein Bed & Breakfast, hat für den Brexit gestimmt und würde es wieder tun. Fast trotzig berichtet er von der jährlichen Magierkonferenz in Blackpool, vom Punkrock-Festival und von guten Geschäften mit internationalen Touristen in der beginnenden Saison.

Dennoch schimmert durch, dass es den meisten Menschen hier an der Irischen See mit oder ohne Brexit immer gleich miserabel gehen wird.

Das Seebad hat seine besten Zeiten schon lange hinter sich. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fuhren Millionen von Arbeiter aus den umliegenden mittelenglischen Industrievierteln, Häfen und Zechen zur Erholung her.

Sie schätzten Spielkasinos, Achterbahnen, Fish & Chips und einen Aussichtsturm an der Strandpromenade, der dem Eiffelturm in Paris nachempfunden ist. In den 1970er-Jahren allerdings entdeckte die britische Arbeiterschaft Mallorca.

In Blackpool blieben die Abgehängten, die hier günstige Unterkünfte und billiges Bier suchen und finden. Heute hat die Stadt eine der höchsten Verschreibungsraten von Antidepressiva im Vereinigten Königreich, die meisten Arbeitsunfähigen und die niedrigste Lebenserwartung bei Männern (etwas über 68 Jahre).

Das 60 Kilometer entfernte Manchester oder Liverpool haben es – mit viel EU-Geld – geschafft, sich im Lauf der Jahre neu zu erfinden, den Abwärtstrend aufzuhalten. In Blackpool dagegen scheint die Sonne noch immer gnadenlos auf ein Idyll der Trostlosigkeit. Nicht einmal eine anständige Fußballmannschaft hat die Stadt. Der Blackpool FC hält sich im Mittelfeld der dritten Liga.

Aufträge einhalten

Am Central Pier sitzt Cathy in der Sonne. Auf ihrem roten Kapuzenpulli steht in großen Lettern "Future". Die junge blonde Frau wartet mit ihrer Schwester Meghan auf Kundschaft, die Dosenwerfen will. Aber niemand bleibt stehen. Nur Möwen hängen krächzend im Wind über ihrem Stand.

Cathy und Meghan
Foto: Christoph Prantner

Wie die Stimmung in der Stadt ist? "Oh, sie ist schauderhaft. Viele Menschen hier brauchen dringend Hilfe." Warum sie denn nicht wegzieht? "Ich bin hier geboren. Ich kenne die Leute. Es ist meine Heimat", erwidert Cathy. Und was hält sie vom Brexit? Sie sei zwar eher dagegen, aber die Politiker könnten nicht einmal diesen einen Auftrag, den sie nun einmal bekommen hätten, einhalten.

"Wir erleben eine große Vertrauenskrise. Das wird langfristige Konsequenzen für die Demokratie haben", sagt Christian Stewart-Smith, der als Geschäftsmann im ganzen Land unterwegs ist. Die Irrationalität der gesamten Brexit-Debatte erklärt er so: "Dinge, die für uns zählen mögen, zählen für viele Menschen eben nicht.

Das ist nicht irrational, sondern eine englische, insulare Sicht. Die Wirtschaft mag zwar wachsen, aber viele spüren wenig davon. Sie fühlen sich zurückgelassen und marginalisiert. Man kann diese Menschen verachten oder eben auch anerkennen, dass sie einen Punkt haben. Wenn wir in einer Demokratie leben wollen, müssen wir auch sie mitnehmen."

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fuhren Millionen von Arbeiter aus den umliegenden mittelenglischen Industrievierteln, Häfen und Zechen zur Erholung nach Blackpool.
Foto: Christoph Prantner

Am Abend verliert United daheim mit 0:1 gegen Barcelona. Und Theresa May bekommt die Verlängerung von den EU-27. Die Daily Mail, das Sprachrohr der konservativen, EU-feindlichen Kleinbürger, titelt: "It’s a Brexit Halloween Nightmare".

3. EDINBURGH

Angus Robertson spricht mit Siri. Obwohl er in einem früheren Leben Radiosprecher war, ist Siri mitunter schwer von Begriff. Irgendwann spielt sie "Scotland’s Story" von den Proclaimers aber doch. Robertson sagt, das sei das perfekte Lied in den Straßen von Edinburgh.

Die Band kommt aus dem Stadtteil Leith, singt über das Schottische und darüber, dass man nicht hier geboren sein muss, um ein Schotte zu sein: "In Scotland’s story I read that they came / The Gael and the Pict, the Angle and Dane / But so did the Irishman, Jew and Ukraine / They’re all Scotland’s story and they’re all worth the same".

Ian Russell

Mit seinem schwarzen VW fährt Robertson in ebendieses Leith. Hier wurde in den 1990ern "Trainspotting" gedreht, heute gentrifiziert das einstmals harte Pflaster langsam. Es ist Donnerstagnachmittag, eine Nachwahl für den Stadtrat ist im Gang. Robertson hat der Scottish National Party versprochen, "knock ups" zu machen.

Er soll an Türen klopfen und fragen, ob die Leute schon SNP gewählt haben. Die Sache gestaltet sich zäh. Aber immerhin bringt er einen Labour-Wähler dazu, noch einmal sein Nein beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 zu überdenken. Das könnte sich, wer weiß, noch als nützlich erweisen.

Zehn Jahre hat Robertson in Wien gelebt und für Blue Danube Radio gearbeitet. Danach saß er für die SNP 16 Jahre im britischen Unterhaus. Jetzt spricht er mit Rob Munn, dem SNP-Kandidaten für den Stadtrat, über die Themen der Wähler in Leith.

Es geht um Bebauungspläne und um Airbnb, das auch hier große Wohnungsnot verursacht. Das wichtigste Thema aber ist der EU-Austritt: "Das Erste, worüber die Leute reden wollen, obwohl sie es eigentlich schon nicht mehr hören können, ist der Brexit", erklärt Munn. Die Menschen fragten sich, was nun mit Schottland werden soll.

Touristen in Edinburgh
Foto: Christoph Prantner

Precious Union?

"Das Vereinigte Königreich soll eine Union der Gleichberechtigten sein", sagt Joan McAlpine, die Vorsitzende des EU-Ausschusses im schottischen Parlament. Aber das – von wegen "Precious Union" – sei nicht der Fall. Für Schottland sei es essenziell, in Zollunion und EU-Binnenmarkt zu bleiben. Ein Brexit würde 100.000 Arbeitslose mehr für Schottland bedeuten, einen Einbruch im Wirtschaftswachstum von acht Prozent und ein Minus von 1600 Pfund Einkommen pro Kopf und Jahr.

Angus Robertson und Rob Munn (u. re.) beim Wahlkampf.
Foto: Christoph Prantner

Die Engländer werde das nicht weiter irritieren, sagt McAlpine. Viele von ihnen lebten ja noch immer geistig mehr im British Empire als in der EU. Die Schotten aber seien schon immer Europäer gewesen. Deswegen begrüßt die SNP-Politikerin die Verschiebung des Brexits und hofft, dass auch in England Vernunft einkehren möge und ein zweites Brexit-Referendum möglich wird.

Und wenn es beim Brexit bleibt? Dann gehe es wohl wieder in Richtung Unabhängigkeit für Schottland. In Studien sagen 62 Prozent der Schotten, dass eine Abspaltung von London nach einem Brexit viel wahrscheinlicher werde. Gegen den Brexit sprachen sich beim Referendum ebenfalls 62 Prozent aus.

Im Hafen liegt die königliche Yacht Britannia fest vertaut an der Mole.
Foto: Christoph Prantner

Donnerstagnacht ist klar, dass Rob Munn den Stadtratssitz gewonnen hat. Die SNP hat zugelegt, Labour stark verloren. Angus Robertson macht sich auf dem Heimweg. Er fährt am Hafen vorbei. Dort liegt die in den 1950ern gebaute königliche Yacht Britannia fest vertaut an der Mole. Sie fährt nicht mehr aus, sie dient als Museumsschiff hier in Schottland – was für ein Symbol. (Christoph Prantner, 13.4.2019)