Mischen räumliche, soziale und bewegungssprachliche Muster des Balletts neu auf: Nina Poláková mit Roman Lazik in "Artifact Suite".

Foto: Ashley Taylor

Das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts hat so großartige Ballettchoreografen hervorgebracht wie Jirí Kylián oder meisterhafte Modernisten wie Hans van Manen. Eine unter diesen Begabungen hebt sich besonders ab: der postmoderne Jahrhundertchoreograf William Forsythe. Der neue Ballettabend Forsythe / Van Manen / Kylián an der Wiener Staatsoper gibt eine Idee davon, wie das zu verstehen ist. Zur Premiere am Sonntag war das Publikum hörbar beeindruckt von Forsythes Artifact Suite, dem Auftakt des vierteiligen Abends. Kein Wunder, denn nicht nur das Stück ist insgesamt und in jedem Detail ein Hammer, sondern die Compagnie des Staatsballetts (Einstudierung: Kathrin Bennetts, Maurice Causey und Noah Gelber) hat diese herausfordernde Arbeit auch wirklich traumhaft getanzt.

Die Artifact Suite zur Chaconne, dem fünften Satz von Johann Sebastian Bachs Partita für Violine Solo Nr. 2 d-Moll und Klavierimprovisationen zu Bachs Musik von Eva Crossmann-Hecht ist ein Stück ohne Handlung. Der Begriff Artefakt im Titel weist darauf hin, worum es geht: um das Ballett als menschengemachtes "Stück" aus Körperbewegungen.

Strukturen auseinandernehmen

William Forsythe (69) ist ein Meister im Auseinandernehmen der Strukturen des Balletts. Er sieht diese Form des Tanzes als mathematische Kunst, mit der die Geometrie des Körpers in Raum und Zeit sichtbar gemacht werden kann. Was da so abstrakt und technisch klingt, wird in der Art, wie Forsythe das dekonstruierte Bewegungsmaterial neudimensioniert und zusammenbaut, zu einem sinnlichen Erlebnis der Extraklasse. Zwei Paare (in der Wiener Premiere Nikisha Fogo mit Jakob Feyferlik und Nina Poláková mit Roman Lazik) und eine Solotänzerin (Oxana Kiyanenko) mischen zusammen mit einer großen Gruppe aus dem Ensemble die räumlichen, sozialen und bewegungssprachlichen Muster des Balletts neu auf.

Wenn man sich an die Tänzer des Ballett Frankfurt erinnert, das Forsythe ab 1984 zwei Jahrzehnte lang leitete, wird natürlich klar, dass die Wiener Compagnie nicht jahrelang mit dem Choreografen gearbeitet hat. Aber die Artifact Suite-Tänzer des Staatsballetts fühlen sich trotzdem fabelhaft in Forsythes Tanzauffassung ein und bieten eine ausgezeichnete Umsetzung an.

Dass es dem Nestor der niederländischen Ballettmoderne, Hans van Manen (86), weniger aufs Experiment ankommt, sondern eher auf einen routiniert verspielten Umgang mit dem Tanz, zeigt sich in Trois Gnosiennes (1982) und Solo (1997). Beide Stücke bieten sich einem Publikum mit einem Faible für anekdotisches Ballett an und sind mit Maria Yakovleva und Jakob Feyferlik respektive Denys Cherevychko mit Richard Szabó und Géraud Wielick auch passend besetzt.

Könner und Künstler

Etwas pathetisch im Vergleich zu Forsythe und van Manen wirkt Jirí Kyliáns schöne Psalmensymphonie aus dem Jahr 1978. Dass sich der zehn Jahre davor nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus Tschechien in den Westen übersiedelte Choreograf im Lauf der 1980-er Jahre wesentlich weiterentwickelt hat, ist bekannt. Für Ballettkenner ist der Rückgriff zur Psalmensymphonie gerade deshalb interessant, doch das Premierenpublikum war nach diesem Abschluss abgedämpft und geizte nachvollziehbar beim finalen Applaus.

Fazit dieses außergewöhnlichen Abends: William Forsythe ist im Vergleich mit echten Könnern ein herausragender Künstler. Es war eine gute Entscheidung, das in so großer Deutlichkeit zu zeigen. (Helmut Ploebst, 15.4.2019)