Auf dem Land ist diese chaotische Welt noch in Ordnung, heißt es häufig. In Zeiten, in denen sich das Tempo in allen Lebensbereichen beschleunigt, träumen sich die Menschen eben an Orte, an denen die Uhren vermeintlich anders ticken – etwa auf die Alm zu Ochs und Kuh.

Alltag in der Provinz anno dazumals: ein Blick auf Gaimberg bei Lienz in Osttirol im 19. Jahrhundert. Doch was geht den Betrachtern dabei durch den Kopf?
Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Aber ob dort das Gras faktisch grüner ist, da gibt es Zweifel. Haben sich diese Idealvorstellungen vielleicht nicht vielmehr geformt aus den zahlreichen fotografischen Darstellungen, die das Landleben dokumentierten? Dieser Frage geht das Forschungsprojekt "Stadt – Land – Kind" der Akademie der bildenden Künste nach.

Fundament der Analyse ist das Bildarchiv des Volkskundemuseums Wien, das bereits im 19. Jahrhundert Ethnologen und Fotografen entsandte, um das österreichische Landleben zu dokumentieren. Insgesamt entstanden so mehr als 200.000 Aufnahmen vom Alltag in der Provinz.

Das ist eine umfangreiche Dokumentation, deren Perspektive aber bereits verstellt ist – die zentrale Organisation und Steuerung der Sammlungsarbeit erfolgte schließlich in der Hauptstadt. Projektleiterin Martina Fineder von der Akademie der bildenden Künste betont: "Damit ist diese Forschung bereits von einem sehr urbanen Blick geprägt."

Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Gleichzeitig fanden sich zahlreiche Parallelen zu den idealisierten Landschaftsaufnahmen, die in jüngerer Vergangenheit im modernen österreichischen Bilderkanon inflationär verwendet werden. Die zu Projektbeginn häufig zu sehenden Inszenierungen von Alexander van der Bellen und Norbert Hofer vor ähnlichen Panoramen im Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016 waren da nur der Gipfel.

Bruchlinien entdecken

Die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen schienen somit vielmehr in Bezug zur Gegenwart zu stehen, als man es auf ersten Blick meinen konnte. Daher war es das Ziel der beteiligten Wissenschafter, anstatt die Fotos einer klassischen Bildanalyse zu unterziehen, diese Abbildungen neu zu kontextualisieren.

Das interdisziplinäre Forschungsteam interessierte sich daher weniger für die Motivik als für die Frage, was bei der Rezeption in den Köpfen der Betrachter passiert.

Dabei half auch, dass diese Unternehmung im Rahmen der Sparkling-Science-Initiative des Wissenschaftsministeriums gefördert wurde: Schülerinnen und Schüler von drei Bildungseinrichtungen – in Kals am Großglockner, in Rastenfeld und im Bregenzerwald – durften die Aufnahmen diskutieren. Das taten sie jedoch nicht allein: An den Bildgesprächen nahmen insgesamt 73 Personen aus drei Generationen im Alter von neun bis 93 Jahren teil.

Für Luise Reitstätter vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, die das Projekt mitverantwortet, war dies ein zentrales Element, um den Gehalt solcher Bilder aus heutiger Sicht zu verstehen: "Es ist interessant zu beobachten, wie historische Bilder aktualisiert und zum Sprechen gebracht werden, wenn sich darüber mehrere Generationen zusammen unterhalten."

Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Auf viele Auffälligkeiten musste man die Jugendlichen gar nicht erst mit der Nase stoßen, sondern sie kamen ganz allein darauf und identifizierten die Bruchlinien in der Darstellung landwirtschaftlicher Archaik: Schnell erkannten sie Elemente, die das Idyll stören. Sie bemerkten im Hintergrund technische Hilfsmittel, motorisierte Fahrzeuge oder Stromleitungen, was der Darstellung des festdefinierten ruhigen Landlebens zuwiderläuft.

Erinnerungen wachrufen

Fineder beobachtete auch, dass die Bilder im Gespräch eine multimediale Dimension bekamen, da sich im Gespräch mit den Zeitzeugen auch Fragen nach Geschmäckern und Gerüchen stellten und Abläufe beschrieben wurden.

Gerade die Diskussionsbeiträge der ältesten Generation, die sich an den auf den Motiven dargestellten Alltag noch erinnern, trugen dazu bei, das Idyll der Fotoaufnahmen zu brechen: Eine schön gedeckte Bauerntafel wirkt nämlich plötzlich anders, wenn die Betrachtung mit neuen Informationen begleitet wird – etwa, dass es nicht immer für alle genug zu essen gab und in der patriarchalischen Mikrogesellschaft des Hofs der Vater zuerst etwas auf den Teller bekam.

Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Somit biete der intergenerative Bilddialog laut Fineder die Möglichkeit, über Gegenwart und Zukunft unseres Zusammenlebens nachzudenken: Manche Senioren kamen beim Betrachten der Bilder zu dem Schluss: "So gut wie jetzt ging es uns noch nie." Worauf einige Nachgeborene ängstlich die Frage stellten, ob das so bleiben würde.

Die bisherigen Forschungsergebnisse sind seit Anfang April in der Ausstellung Retropia im Volkskundemuseum zu sehen. Die Zusammenstellung sei aber keine reine Ergebnispräsentation, sondern Teil der noch bis zum Sommer durchgeführten Analyse: "Wir forschen auch innerhalb der Ausstellung", sagt Reitstätter.

Foto: Österreichisches Museum für Volkskunde

Wie die Besucherinnen und Besucher in der interaktiven Schau die Aufnahmen kommentieren, wird in die Studie einbezogen. Die Bildgespräche werden hier ebenfalls fortgeführt. Nachdem man bisher nur die Landbevölkerung befragt hat, sind in den nächsten zwei Monaten also die Wiener dran. Somit schweift am Ende noch einmal der urbane Blick über diese Fotografien. (Johannes Lau, 19.4.2019)