Die Architektur als Safe, in der die Schätze des menschlichen Geistes sicher die Zeit überdauern, so hat Victor Hugo einmal die Baukunst umschrieben. Nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in seinem 1831 erschienenen Roman Der Glöckner von Notre-Dame. Dann allerdings kam die Revolution in Form des Buchdrucks: "Das Buch tötete den Bau" und übernahm die Aufgabe des Bewahrens von Visionen. Das erklärt, warum es so viele berührt, wenn Bibliotheken oder historische Bauwerke, also Speicher des kollektiven Gedächtnisses, in Flammen aufgehen.

Die Pariser Kathedrale gilt als Inbegriff des kulturellen Erbes der "Grand Nation". Könige und Bischöfe sind hier beigesetzt. Nach bisherigen Informationen konnten viele Kirchenschätze gerettet werden.
ORF

Gilt die Gotik als Inbegriff der abendländischen Architektur, so ist die Kirche Notre-Dame de Paris ihr bekanntestes Wahrzeichen. Denn beim Bau auf der Île de la Cité, der kleinen Seine-Insel, handelt es sich nicht um irgendeine gotische Kathedrale, sondern um eines ihrer frühesten Beispiele.

Aufblick in die Vierung (am Kreuzungspunkt von Langhaus und Querschiff) von Notre-Dame.
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Himmlisches Jerusalem

1163 begonnen, fällt Notre-Dame in jene Phase, in der im französischen Kronland der neue Bautypus zur bestimmenden Kirchenform erklärt wird. Das heißt Notre-Dame hat Beispielwirkung, gab als Bischofskirche wesentliche Impulse. Erst hundert Jahre später wird die gotische Kathedrale in ganz Europa zum verbindlichen Stil.

Die Gotik ist der einzige Stil – vor dem Bauhaus –, der alle Bezüge zur Antike aufgegeben hat. Die Kathedralen waren Ausdruck einer neuen Identität und veränderten Glaubensauffassungen. Das Paradies, den "Himmel", stellte man sich zu jener Zeit als Architektur vor, als eine Art Thronsaal, als Himmelsstadt. Die gotische Kathedrale wurde zum phantasievollen und bunten Abbild des Himmlischen Jerusalems. Ein Ziel, für das sich Architektur, Bauplastik und Malerei gegenseitig durchdrangen.

Ausdruck der Gotik

Gründungsbau der Gotik ist Notre-Dame nicht. Dieses Prädikat kommt der 19 Jahre vor dem Pariser Baubeginn geweihten Kathedrale von St. Denis nördlich von Paris zu. Aber da wie dort wurde sehr konkret, was gotische Architektur meint und was man später mit erhebend und aufstrebend als organisch gewachsen von den Fundamenten bis ins Gewölbe hinauf umschreiben wird: Bauten mit Wänden, die zu fragilen Strukturen aufgelöst sind, als trügen sie kein Gewicht. Architekturen mit riesigen Fenstern, die wie Edelsteine glänzen.

Möglich wurde diese Leichtigkeit durch die Rippengewölbe, die Gewicht und Druck größerer Spannweiten und Raumhöhen viel besser verteilen konnten. Das Strebewerk leitete die Lasten obendrein an das Äußere des Baus ab. So konnten die Bauten in die Höhe wachsen, die Wände mit mehr Fenstern versehen werden, Trennwände wegfallen. Ein völlig neues, lichtes Raumerlebnis entstand: Notre-Dames fünfschiffiger Innenraum misst in der Länge knapp 130 Meter und bietet für etwa 9000 Menschen Platz.

Das Gewölbe erreicht im Mittelschiff sogar eine Höhe von 32,5 Metern. Vor dem Pariser Bau war das undenkbar gewesen. Um ganze zehn Meter übertrumpfte Notre-Dame Vorgängerbauten. Allerdings war das Gewölbe, das sich zwingend mit dem offenen, im Äußeren ablesbaren Strebewerk verbindet, erst später eingezogen worden. Für Notre-Dame, das erst 1250 vollendet wurde, wurde also nicht, wie lange angenommen, das Strebewerk erfunden.

Das Rosettenfenster in der Nordfassade. Es soll beim Brand am Montagabend nicht zerborsten sein, heißt es.
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Rosenfenster in Blütenform

Charakteristisch für die Wirkung von Notre-Dame und für die besondere Lichtstimmung entscheidend sind seine bunten Glasfenster, die berühmten Rosenfenster in Blütenform mit ihren filigranen, ornamentierten Steingittern, dem Maßwerk. Mit Durchmessern von bis zu 13 Metern zählen die Fenster der Süd, Nord- und Westfassade zu den größten Europas. Das älteste von ihnen ist jenes, das das 1208 begonnene Portal im Westen dominiert. Jüngsten Informationen zufolge sollen diese drei beim Brand nicht zerborsten sein.

Von den zahlreichen mobilen Kirchenschätzen konnte vieles gerettet werden, so etwa die Reliquie der Dornenkrone, die der französische König Ludwig der Heilige in Konstantinopel erworben hat. Weitestgehend verschont blieb auch die große Orgel mit knapp 8000 Orgelpfeifen. 16 Kupferstatuen, die im Zuge der Restaurierungen abgenommen wurden, sind in Sicherheit. Unklar ist hingegen der Verbleib einer Marienskulptur aus dem 14. Jahrhundert und zahlreicher Gemälde französischer Künstler aus dem 17. und 18. Jahrhundert. (Anne Katrin Feßler, 16. 4. 2019)