Der Tumult im Publikum war bekanntlich groß, als Igor Strawinskys "Le sacre du printemps" im Mai 1913 in Paris seine Uraufführung erlebte. Ein paar Takte des Schlüsselwerks der Moderne erklangen aus den Lautsprechern des Wiener Konzerthauses, bevor Bob Dylan am Dienstagabend mit seiner Band direkt in den Opener "Things Have Changed" einfiel.

Dylan, der mit seiner Elektrifizierung Mitte der 60er-Jahre für einen heute kaum noch ermesslichen Eklat gesorgt hatte, mag sich in der derzeit routinemäßig verwendeten Auftrittsmusik aus vielen Gründen wiederfinden, mit dem ehrwürdigen Wiener Auditorium hat sie, so gut sie auch passen mag, jedenfalls nichts zu tun. Natürlich auch damit nicht, dass es am Ende des ersten von zwei Wien-Konzerten einen kleinen Aufreger mit Publikumsbeteiligung gab.

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Liebt es nicht, für Handys zu posieren: Bob Dylan, hier bei einem Auftritt in den USA im Jahr 2017. Im Hintergrund: Multiinstrumentalist Donnie Herron.
Foto: REUTERS/Mark Makela

Dass Dylan immer wieder einmal die Augen zu Säulen und Decke des Konzerthauses hochwandern ließ, war allerdings nicht zu übersehen. Bekanntlich handelt es sich hier nicht nur um einen Tempel der sogenannten Hochkultur. Schon der einst Dylan in einer "mutual admiration society" verbundene Jimi Hendrix hatte die Saalwände des Konzerthauses erzittern lassen, und auch Dylans einstige Begleitband, die Americana-Pioniere The Band, spielten hier 1971 in ihrer Originalbesetzung auf.

Neuer Zugang zu alten Songs

Seit Dylans Auftritt vor genau einem Jahr in der Wiener Stadthalle hat sich vor allem eines geändert: Die Jazz-Standards sind aus dem Programm. Ihre Spuren haben sie dennoch hinterlassen. Vieles spricht dafür, dass der bald 78-Jährige durch die Auseinandersetzung mit den Standards nicht nur zu einer neuen, unvermutet kräftigen Stimme, sondern auch zu einem frischen Zugang zu eigenen, länger vernachlässigten Klassikern gefunden hat.

Indizien dafür finden sich mit dem Sixties-Song "It Ain't Me, Babe", den Dylan mit seiner Band dynamisch an- und abschwellen lässt, gleich am Anfang. Die Vorzeichen stehen auf Reduktion. Dylan, dieses Mal hutlos, verzichtet mittlerweile gänzlich auf Lichteffekte. Einzig und allein alte Filmscheinwerfer und wie Grubenlampen wirkende Lichter tauchen den Chef und seine allesamt in charmant altmodisches Tuch gehüllten Begleiter in goldgelbes Licht. Seine langjährige Begleitband hat Dylan, der bis auf einen Song ausnahmslos am Flügel steht oder sitzt, von einem fünf- auf ein vierköpfiges Ensemble verkleinert.

Das eröffnet Freiräume, dem jenseits aller Klischee-Licks agierenden Gitarristen Charlie Sexton ebenso wie dem Multiinstrumentalisten Donnie Herron. Vor allem erlaubt es dem gern geschmähten Sänger Dylan, das zu intensivieren, was er in Liner Notes einmal als "exercises in tonal breath control" bezeichnet hat. Wie schon zuletzt bei den Jazz-Standards, rückt er seine Stimme in den Fokus, lässt sie zuweilen wie Kerzenlicht flackern, um sie im nächsten Moment wie einen Schneidbrenner einzusetzen.

Fast solo am Klavier

"When I Paint My Masterpiece" beginnt als Soloperformance. Bei keinem Song präsentiert sich Dylan dann nackter als bei einer durchgehend reduzierten Version von "Don't Think Twice, It's All Right". Sie gerät zu einem der Glanzlichter des Abends. Die Begleiter, die Augen immer auf den Chef gerichtet, setzen subtile Wegmarkierungen für die elegische Neudeutung eines einst säurehaltigen Abschiedssongs.

Das absolute Meisterstück, eine radikale Neufassung seines wohl ikonischsten Songs, "Like A Rolling Stone", serviert Dylan mittendrin. Immer wenn das Spottlied von 1965 am Ende der Strophe ankommt, ziehen ihm Dylan und Band gleichsam den Boden unter den Füßen weg: Der Sänger interpretiert das Strophenende rhythmisch völlig frei allein am Klavier, näher an Ornette Coleman denn "La Bamba". Dann wie am Anfang der Studioversion erneut ein knallender Schlag auf die Snare-Drum, das Drama kann weitergehen, sich immer höher schrauben. Dylan und seine Musiker inszenieren den Song wie ein aus sich umeinander drehender Teile bestehendes Mobile. Es sind die Leerstellen, die für maximale Wirkung sorgen. Oder wie Dylan später in "Love Sick" singt: "Sometimes silence can be like thunder."

Neu wie alt

Mit einer Nostalgieshow hat all das nichts zu tun, stattdessen gibt es einen Parcours durch Songs aller Karriereabschnitte. Das erste Beifallshoch erntet Dylan mit einem Song, der eines Wiedererkennungseffekts ganz und gar unverdächtig ist: Bei "Scarlet Town" von "Tempest" (2012), für das Dylan zum Mikrofon in der Bühnenmitte stakst und mit der Hand Akzente von Drummer George Receli dirigiert, ist es die Intensität des Erzählers, die beklatscht wird.

Keine Gipfel ohne Täler. Nach einem melancholische "Simple Twist of Fate", wunderbar angewärmt mit der Mundharmonika, zu der Dylan nach längerer Pause wieder greift, bescheidet er sich mit dem simplen, immerhin keck über die Akkorde von Links Wrays Gitarreninstrumental "Rumble" gespielten Blues "Cry A While". Auch das von Adele zum Hit gemachte "Make You Feel My Love", für das Dylan garantiert nicht den Literaturnobelpreis bekommen hat, steht auf dem Programm.

Abbruch und Neustart

Mit einem energischen "Gotta Serve Somebody" ist erst einmal Schluss, das Publikum auf den Beinen und am Mittelgang bis zur Bühne vorgedrungen. Danach nimmt ein kleines Drama seinen Lauf. Noch während der ersten Zugabe, "Blowin' in Wind", wendet sich Dylan sichtlich enerviert an die Band. Diese bricht den Song ab und legt mit "It Takes a Lot to Laugh, It Takes a Train to Cry" los. Irgendetwas passt auch da nicht. Dylan geht zur Bühnenmitte, seine ersten Worte gehen unter. Beim Schritt zurück stolpert er über eine Monitorbox, droht hinzufallen, fängt sich, geht erneut zum Mikrofon und bedeutet mit den Händen, aufzupassen: "Ich sage es noch einmal. Macht Fotos oder nicht, wir können entweder spielen oder posieren."

Es sind also die gezückten Handys, die den Performer in Rage bringen. Die Musik wird immer leiser, Dylan bleibt noch Momente, die zu einer kleinen Ewigkeit werden, stehen und setzt sich dann doch wieder ans Klavier. Aufatmen. Der mit schneidender Stimme interpretierte weißglühende Blues gerät zu einem letzten Höhepunkt.

Danach nickt Dylan kurz dem Publikum zu und überlässt das Feld seiner Band. Zu viert macht sich die Combo mit viel Gusto über eine jüngst ins Programm genommene Instrumentalversion von Dylans "Just Like Tom Thumb's Blues" her. Nach einem kurzen Solo geht ein Musiker nach dem anderen ab. Zuletzt die Rhythmusgruppe, die von der Magie des späten Dylan nicht wegzudenken ist: ein grinsender Tony Garnier, der nach 30 Jahren als Bassist und musikalischer Leiter in Dylans Band noch immer so wirkt, als sei er den "Sopranos" entsprungen, und George Receli, der Drummer, bei dem immer die unwiderstehlichen Second-Line-Beats der Marching Bands von New Orleans mitpulsieren.

Als Receli seine Drumsticks über die Schulter wirft, hat Dylan wohl längst das Gebäude verlassen, um am Mittwochabend nochmals auf die Konzerthausbühne zurückzukehren, zum Spielen wohlgemerkt. Am Freitag dann ein Gastspiel in der Olympiahalle in Innsbruck. Die Handys sollten dabei besser in den Hand- und Hosentaschen bleiben. (Karl Gedlicka, 17.4.2019)