CHP-Anhänger vor der Bekanntgabe am Mittwoch: Die türkische Opposition feierte ihren Wahlsieg in Istanbul wie ein Fußballmatch.

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Die Fans des türkischen Fußballklubs Besiktas Istanbul sind unter anderem für zwei Dinge wohlbekannt: Sie gelten mit – gemessenen – 141 Dezibel Lärmentwicklung als der lauteste Fußballfanchor der Welt. Und außerdem sind sie berüchtigt für ihre Antipathie gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan. Beim Spiel gegen den Kontrahenten Istanbul Basaksehir FK am vergangenen Wochenende in der türkischen Hauptstadt kam beides zusammen – in ohrenbetäubender Lautstärke brüllten die Fans: "İmamoğlu'na Mazbatayi ver!" ("Gib İmamoğlu die Wahlurkunde!").

Am Mittwochnachmittag nun hat Ekrem İmamoğlu seine Mazbata tatsächlich erhalten. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) nahm seine Wahlurkunde im Justizpalast in Istanbul in Empfang, wo sich eine kleine Menschenmenge versammelte.

Wahlkrimi geht weiter

Zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren wird die 16-Millionen-Metropole, deren Großraum allein für 40 Prozent der Wirtschaftsleistung der Türkei verantwortlich ist, nicht mehr von einer islamisch-konservativen Partei regiert. Ob der 48-Jährige auch Bürgermeister bleiben kann, ist aber noch offen: Kritiker vermuten, İmamoğlu habe seine Urkunde nur erhalten, damit sie ihm auch später wieder offiziell aberkannt werden kann.

Dennoch ist der Wahlkrimi in Istanbul nicht zu Ende: Noch am Wahlabend vor knapp drei Wochen hatte der AKP-Kandidat Binali Yildirim seinen Sieg bekanntgegeben. Am nächsten Morgen aber zeichnete sich dann ab, dass der CHP-Kandidat mit wenigen Tausend Stimmen in Führung lag. Daraufhin forderte die AKP eine Neuauszählung der Stimmen in manchen Bezirken. İmamoğlus Vorsprung schrumpfte daraufhin etwas, er behielt aber mit 13.000 Stimmen doch die Nase vorn. Eine komplette Neuauszählung der Stimmen lehnte die oberste Wahlkommission ab.

Jetzt fordert die Regierungspartei Erdoğans, die AKP, eine Wiederholung der Wahl. Die regierungsnahe Zeitung Yeni Akit wies in ihrer Mittwochsausgabe auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten hin: Einige Tausend Stimmen seien von Wählern, die längst verstorben sein, andere von nicht stimmberechtigten Kriminellen und geistig Behinderten. Erdoğan selbst sprach gar von "organisiertem Betrug". Cumhuriyet, eine der letzten verbliebenen kritischen Zeitungen, konterte: Mit denselben Argumenten ließe sich auch die Präsidentschaftswahl 2018 wiederholen. In den kommenden Tagen wird die Wahlkommission entscheiden, ob es tatsächlich zu Neuwahlen kommen wird. Als wahrscheinlicher Termin gilt der 2. Juni.

Würde Erdoğan profitieren?

"Ich habe meine Ernennungsurkunde im Namen aller 16 Millionen Bürger der Stadt Istanbul angenommen", sagte İmamoğlu. "Im Sinne unserer Bürger sollten die zuständigen Stellen so bald wie möglich diesen Prozess zu einem Ende führen und sich klar äußern. Unser Gewissen ist jedenfalls rein."

Fraglich ist, ob die AKP wirklich von einer Neuwahl profitieren würde. Viele Istanbuler empfinden das Vorgehen der AKP als unsportlich. Im Falle einer Wiederholung dürfte die Opposition deswegen wahrscheinlich noch mehr Stimmen erhalten. Während das staatliche Fernsehen den smarten und gleichzeitig etwas biederen Bauunternehmer weitgehend ignoriert, ist es İmamoğlu gelungen, seine Wähler über das Internet zu mobilisieren. Auf Twitter folgen ihm 1,7 Millionen Menschen, gleichzeitig ist er auf Facebook und Instagram aktiv und überträgt dort seine Reden und Stellungnahmen live.

Nicht nur eine symbolische Schlappe

Viele vermuten ohnehin andere Gründe für die Verzögerung. "Da geht es darum, sich noch schnell die Taschen vollzumachen", sagt ein deutscher Unternehmer in Istanbul. "Die nutzen die Zeit, um noch ein paar Aufträge an Günstlinge zu vergeben." Ebenso kursieren Gerüchte, wonach nachts Lkws mit Akten aus Regierungsgebäuden verschwänden, die Korruption und Vetternwirtschaft belegen würden. Handfeste Beweise gibt es dafür nicht.

Fakt aber ist: Für die AKP bedeutet der Verlust der größten Stadt des Landes nicht nur eine symbolische Schlappe. Es geht auch um ein Budget von 24 Milliarden Lira, rund 3,7 Milliarden Euro. Zur Stadt gehören 28 Unternehmen, die Aufträge wieder an private Subunternehmen weitergeben – mit einer transparenten, fairen Ausschreibung hat das meist nichts zu tun.

Zudem hat die Stadtverwaltung jahrelang gemeinnützige Stiftungen unterstützt, die der Erdoğan-Familie nahestehen. So sitzt etwa Erdoğans jüngster Sohn Bilal im Aufsichtsrat der Jugendorganisation Tugva, die allein 2018 zwölf Millionen Euro erhielt. Obendrauf hat die Metropole Schulden in Höhe von 22 Milliarden Lira, rund 3,4 Milliarden Euro. Auf den neuen Bürgermeister kommt also einiges zu. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 18.4.2019)