Wache am 17. April verkatert auf und habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Ich schaue auf meine Uhr und bin noch verwirrter. Ich schaue aus dem Fenster und denke, ich bin im Waldviertel. Kurz bekomme ich Panik, aber dann höre ich die Alarmanlagen von umgefallenen Mopeds und die hupenden Autos und in Megafone schreiende Soldaten und stelle beruhigt fest, dass es nicht der niederösterreichische Nebel ist, der mir die Sicht versperrt, sondern nur die normale Pekinger Mischung aus Smog und Pollen, die durch das Fenster meines Airbnb-Zimmers im zwölften Stock weht.

Es ist 15 Uhr Pekinger Zeit. Ich habe elf Stunden geschlafen. Ich schieb es auf den Jetlag, aber wahrscheinlich waren es auch die fünf bis acht Biere, die ich mit den Musikern der Wiener Band Hotel Balkan in der Temple Bar vernichtet hab, die auch gerade über das Österreichische Kulturforum Peking auf Tour hier sind, während ich einem rotzbesoffenen Mann in Unterhose und mit Pikachumütze dabei zugesehen hab, wie er überraschend liebevoll mit jemandem tanzt, der entweder hauptberuflicher Stripper in einem Polizeikostüm oder nebenberuflicher Stripper in seiner hauptberuflichen Arbeitskleidung ist.

Kontrollsüchtiges China

Langsam kehren auch die anderen Erinnerungen von gestern wieder zurück. Mehrere Auftritte mit Jimmy in Unis und Schulen, ein Radiointerview mit einem ehemaligen Berliner Krimiautor, der irgendwann die Marktlücke entdeckt hat, Productplacement für Firmen und Tourismusbehörden in seine Kriminalgeschichten einzubauen. So erklären sich auch einige seiner Buchtitel wie "Die Leiche am malerisch schönen Müggelsee", "Pittoreske Hochalmwanderwege aus der Hölle" oder "Ich weiß, was du letzten Sommer in den idyllischen Schlössern und Thermen des Waldviertels gemacht hast." Oh Gott, da ist es wieder, das Waldviertel! Ruckartig komme ich zu mir. Ich schließe das Fenster, aber das Zimmer ist inzwischen genauso neblig wie die Straße, also kann ich auch gleich rausgehen.

Damit das hier nicht zu negativ klingt: Mir gefällt das alles ja sehr. Außerdem rauche ich sowieso, da ist mir die Luftqualität herzlich egal. Das Einzige, was ich tatsächlich etwas anstrengend finde, sind die vielen Kontrollpunkte und Transitzonen, durch die man den ganzen Tag geschleust wird. Heute ist unser auftrittsfreier Tag, und wir wollen zum Tian’anmen-Platz, den ich – seien wir uns ehrlich – wie jeder vernünftige Tourist naturgemäß Tjanamen ausspreche. Aber um den Platz betreten zu können, müssen wir zunächst direkt nach Verlassen der U-Bahn-Station unsere Reisepässe herzeigen, Taschen scannen lassen und uns von Securitybediensteten derart ineffizient abtasten lassen, dass es das ganze Unterfangen schon wieder ad absurdum führt.

Gefühlt verbringt man in Peking etwa 30 Prozent des Tages damit, kontrolliert zu werden. U-Bahn? – Taschenkontrolle vor dem Eingang. Tickets am Bahnhof kaufen? – Identitätskontrolle am Gebäudeeingang und Taschenkontrolle. Uni? – Ausweiskontrolle und Taschenkontrolle. Schulen? – Ausweiskontrolle und Taschenkontrolle. Sehenswürdigkeiten? – Ausweiskontrolle, Abtasten, Taschenkontrolle. Zudem sind die allwissenden, ubiquitären Überwachungskameras ohnehin zu jeder Tages- und Nachtzeit in jedem denkmöglichen Winkel auf einen gerichtet. Selbst die Klassenzimmer an den Unis und Schulen werden überwacht. Die Studierenden kommen nur via Gesichtserkennung auf das Uni-Areal, das heißt, jedes Fehlbleiben, egal ob krankheitsbedingt, alkoholbedingt oder sonstwasbedingt, wird automatisch registriert. Nicht dass das viele Leute stören würde. Umgekehrt, so sagt man uns, lacht man hier darüber, wie die Politik in Europa von den Wirtschaftsmächten gesteuert wird. Hier steuert eben die Politik die Wirtschaft. Und die Gesellschaft. Und den Alltag. Und jeden Aspekt deines Lebens. Aber gut, das ist halt die Zukunft.

Tian'anmen-Platz, kontrolliert.
Foto: jimmy brainless

Unkraut unerwünscht

Mao lächelt uns aus weiter Ferne von den Toren der Verbotenen Stadt zu, und ich drehe ihm den Rücken zu und starre wie gebannt auf einen riesigen Laternenmast mit semi-sowjetischer Plastikprunkästhetik, an dem zwei opulente goldene Lautsprecher hängen – zwei von mehreren Hundert, die sich über die weitläufige Fläche des Platzes erstrecken, an dessen Rändern gerade die Sonne im Nebel versinkt und unsichtbar ist, lange bevor sie den eigentlichen Horizont erreicht.

An drei am oberen Ende der Laterne befestigten Querstreben sitzen neun Überwachungskameras wie ausgestopfte Tauben und richten ihre Blicke starr in alle Himmelsrichtungen. Sie verhalten sich still und friedlich, aber man sollte sie besser nicht zu viel füttern. Abends erstrahlen sie in einem warmen orangen Licht; und ich fürchte mich vor dieser Ästhetik mindestens genauso sehr, wie ich verliebt in sie bin.

Jimmy steht in ein paar Metern Entfernung und beobachtet fasziniert eine Frau auf einer Art Mini-Golf-Kart, die offenbar die Aufgabe hat, mit einer Greifzange mit zwei spitzen Nadeln an den Enden die täglich neu aufkeimenden Gräser an der Wurzel aus den Rillen zwischen den abertausenden Steinplatten zu reißen, bevor die Pflanzen in der Lage dazu sind, Schäden in das Fundament des Platzes zu schlagen. Sie zieht die Nadel durch die Ritze und hebt den entstehenden Mulch mit der Greifzange auf, um ihn in einen Plastiksack fallenzulassen. Dann fährt sie mit ihrem Kart zehn Zentimeter weiter und wiederholt den Handgriff. In ein paar Minuten werden die offenen Ritzen wieder mit Wattebäuschen voller Pollen gefüllt sein, und der Kreislauf beginnt von vorne.

Tian'anmen-Platz, gejätet.
Foto: jimmy brainless

Bier, Tschick und Hitler

Zu Fuß unterwegs sind im Gegensatz dazu Dutzende von Soldaten, die alle paar Sekunden schnurgerade von willkürlichen A-Punkten zu willkürlichen B-Punkten marschieren. Manche stehen auch an den Kreuzungen und manipulieren metallene Sperren, um die Fußgänger über einen Zebrastreifen gehen zu lassen und den Zebrastreifen anschließend wieder abzuriegeln, damit niemand aus den dazwischen fahrenden Autos plötzlich aus seinem Gefährt springen und auf den Platz rennen kann, denn diese wurden im Gegensatz zu den Fußgängern noch nicht auf Ausweis und Tasche kontrolliert.

In dem Moment wird mir klar, dass ich seit mehreren Tagen eine Dose Budweiser mit mir herumtrage, die ich beim Umsteigen am Flughafen Warschau gekauft habe und die nun seit mindestens 72 Stunden sonnengewärmt und langstreckengeschüttelt in meiner Tasche vor sich hin gärt. Jetzt natürlich die Zwickmühle: Wenn ich die Dose öffne, um das Bier zu trinken, könnte sie explodieren. Wenn ich sie nicht öffne und das Bier einfach weitergärt, könnte sie auch explodieren. Wenn ich sie einfach in einen Mistkübel schmeiße und sie anschließend dort explodiert, fliegt bestimmt einer der Kameravögel davon, um mich zu verpetzen. Daher tue ich, was jeder kluge Österreicher tun würde, und lasse das Bier einfach in meiner Tasche und vertraue darauf, dass sich das Problem von alleine löst.

Kleiner Bier-Fun-Fact an dieser Stelle: In manchen Pekinger Supermärkten kann man Wieselburger kaufen. Oh Gott, da ist es wieder, das Waldviertel! Ach so, nein, das Mostviertel. Na ja, auch nicht weniger schlimm. Ich trinke hier aber ohnehin meistens Tsingtao, was ironischerweise wiederum ein deutsches Bier ist, da die Firma 1903 ursprünglich als Germania-Brauerei im von Deutschen besetzten Kiautschou gegründet wurde. This Info was brought to you by Wikipedia. Aber da weiß man wenigstens genau, was man kriegt. Bei den Zigaretten hab ich hingegen einfach auf die hellste Packung gedeutet, in der Hoffnung, dass es die schwächsten sind. Wir werden sehen.

Apropos weiß und schwach: Heute wollten bereits zweimal Chinesen Fotos mit uns weißen, schwächlichen Europäern machen. Ich kann mir das noch nicht genau erklären, weil ich nicht das Gefühl habe, mit meiner Haarfarbe sonderlich exotisch auszusehen, aber andererseits hat Jimmys taiwanesischer Onkel bereits bei der letzten Tour vor zwei Jahren auf mich gezeigt, gelacht und gesagt: "Ha ha, du schaust aus wie Hitler!", und da hilft es natürlich auch nicht, dass Teile meiner Familie tatsächlich aus Braunau kommen.

Was ich sagen will, ist: Ich hoffe, dass die Chinesen Selfies mit mir machen wollen, weil sie mich als den aufstrebenden jungen Wiener Schriftsteller und Poetry-Slammer Elias Hirschl erkennen (wovon ich mit ziemlicher Sicherheit ausgehe), und nicht, weil sie mich fälschlicherweise für den Autor eines anderen, deutlich populäreren, wenn auch literarisch wesentlich schwächeren Buches halten. Ich kann nur hoffen, dass es anderen Österreichern nicht genauso ergeht, wenn sie hier auf offiziellem Staatsbesuch sind.

Spittoon im The Great Outdoors.
Foto: nina dillenz

Pekinger Poetry-Slam

Am nächsten Tag treten wir als Gäste auf einem Poetry-Slam im The Great Outdoors Pub in der Nähe des Lama-Tempels auf. Klassisch nach amerikanischem Vorbild gibt es viel persönliches, emotionales, performatives Spoken Word von den anderen Teilnehmern. Die Atmosphäre ist sehr warmherzig, man fühlt sich wie in einer seltsamen, aus allen Ecken der Welt zusammengewürfelten Familie. Wir lesen und singen abwechselnd auf Deutsch und Englisch, und die Leute scheinen es trotz aller Sprachbarrieren sehr positiv aufzunehmen. Danach geht es relativ schnell nach Hause, morgen müssen wir um vier Uhr aufstehen, um den Zug zum nächsten Reiseziel, Chengdu, zu erwischen. (Elias Hirschl, 20.4.2019)