"Zum Brexit ist schon alles gesagt, aber noch nicht von allen." Gut gelaunt eröffnete Thomas Wieser ein Gespräch über den Brexit, dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, im Wiener Außenministerium. Der Ökonom war bis 2018 Vorsitzender der Eurogroup Working Group, besser bekannt ist er als "Mr. Euro" und hat in dieser Funktion so manche Krise in Europa managen müssen.

Der Brexit sei ein Prozess der Desintegration, durch die unzähligen Vereinbarungen und die starke Integration der Mitgliedstaaten seien alle Auswirkungen schwer vorherzusehen. "Man muss sich das so vorstellen wie das Machen einer Eierspeise: Es ist relativ einfach, das Ei zu brechen und eine Eierspeise zu machen, aber wie macht man aus einer Eierspeise wieder ein Ei?"

Kneissl befürchtet "demokratiepolitische Krise"

Der Brexit droht sich zu einer unendlichen Geschichte – auch für die EU – zu entwickeln, nachdem der erste Austrittstermin am 29. März bereits geplatzt ist und auch der zweite am 12. April auf 31. Oktober verschoben wurde. Außenministerin Karin Kneissl, die zu dem Gespräch eingeladen hat, sieht diese Entwicklung mit großer Sorge.

Durch die Teilnahme der Briten an den Wahlen zum Europäischen Parlament und das folgende Beschicken der Institutionen für eine sehr kurze Zeit drohe der EU eine demokratiepolitische Krise, "die vielleicht noch viel stärkere Auswirkungen haben kann als die wirtschaftliche Katastrophe, die bei einem harten Brexit gedroht hätte".

Langfristige Folgen

Wieser warnt davor, dass es zwar kurzfristig besser erscheinen mag, einen klaren Schnitt mit Großbritannien zu haben. Langfristig aber sei es erstrebenswerter, gute Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich zu haben. Das sei zwar mühseliger, aber es sei besser, wenn man ordentlich geschieden sei, so der Ökonom.

Die kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexits auf Österreich seien überschaubar. Die wesentlichen Auswirkungen werde man aber auch hierzulande vor allem im politischen Bereich spüren. "Wie sieht die künftige Agrarpolitik, die Haushaltspolitik oder die Wettbewerbspolitik der EU aus? Wird die EU protektionistischer werden?" Die Antworten auf diese Fragen werde auch eine langfristige Bedeutung für Österreich haben. Kurzfristig fehle der Nettobeitrag der Briten im EU-Budget. Langfristig werde jedoch die Frage, wie die Struktur des EU-Budgets künftig aussehen werde, viel entscheidender sein.

Ein Europa konzentrischer Kreise

Durch den Austritt des Vereinigten Königreichs werde es wahrscheinlich zu einer politischen Stärkung der "EU-Staaten des Südens" kommen, so Wieser – "mit allen Auswirkungen".

Einfacher werde die Entscheidungsfindung innerhalb der EU jedenfalls nicht. Deswegen plädiert er für ein Europa konzentrischer Kreise. Viele wichtige Entscheidungen auf europäischer Ebene stoßen inzwischen auf Verfassungs- und Identitätsfragen einzelner Mitgliedstaaten – weswegen Wieser für eine EU "unterschiedlicher Verfasstheiten" plädiert. (stb, 23.4.2019)