The Flaming Lips 1999. Damals erschien das Meisterwerk der Band: The Soft Bulletin.

Foto: warner

1992 war ich länger in den USA unterwegs. Rostschüssel kaufen, von Küste zu Küste zu Küste fahren, endlich die ganzen aufgestauten Roadmovie-Fantasien abbauen. Hat nicht geklappt, es wurden, im Gegenteil, immer mehr.

Mitte Juli war ich eine Woche in Memphis. Das Königsgrab besuchen, das Sonnenstudio, Schwab's auf der Beale Street, die Zecherln in den Mississippi tauchen ... Im Plattenladen Shangri La lag ein Heft auf, das hieß Kreature Comforts Lowlife Guide To Memphis und kompilierte subkulturelle Seltsamkeiten und Sehenswürdigkeiten der Stadt, die teilweise nicht mehr existierten, wie das Stax Studio.

Da war ein Restaurant angeführt, das dem Reiseprofil zu entsprechen schien. Es hieß P&H – das stand für "Poor & Hungry". Optimalerweise lag das in unmittelbarer Nachbarschaft zum Antenna Club. Dort stand ein Besuch ohnehin an.

Dufte Jungs

Der Antenna Club war einer der Underground-Hotspots der Stadt in jener Zeit, an einem Abend sollten dort die Flaming Lips auftreten, da musste ich hin. Zuvor dinierte ich im P&H, das seinem Namen mittels eines bescheidenen Küchengrußes alle Ehre machte. Am Nebentisch saß eine Meute verwitterter Typen mit langen Haaren. Ob das stechende Odeur im Lokal ihnen oder der Küche geschuldet war, ließ sich nicht exakt feststellen. Als später die Band im Antenna Club die flache Bühne betrat, waren es jedenfalls die duften Jungs von vorhin.

Der Antenna Club in Memphis back in the day.

Aber das war nur kurz zu erkennen, denn kaum legten sie los, blies eine Trockeneismaschine Nebel in den Saal, Stroboskop-Zucken und übersteuerte Gitarrenwände besorgte den Rest. Das blieb so. Die Band ging ab, alle Regler am Anschlag, im Nebel flogen die Haare, der Sänger gestikulierte adäquat. Der Sound war eine Mischung aus Interstellar Overdrive und Lucy in the Sky with Diamonds. Wenn Ihnen das nichts sagt, fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Eine halbe Stunde habe ich's ausgehalten, dann bin ich mit einem Anflug von Kopfweh raus.

Freaks landen beim Major

Einen Monat später sollte damals mit Hit To Death In The Future Head ihr erstes Album auf einem Major erscheinen, was wohl der gerade einsetzenden Goldgräberstimmung der Musikindustrie nach dem Durchbruch von Nirvana geschuldet war. Doch die Lips aus Oklahoma City hatten schon zuvor im Windschatten von Majors veröffentlicht, auf dem Label Restless Records, einem Wurmfortsatz von Enigma, das wiederum zu Capitol, also zur EMI, selig, gehörte.

Eine wirkliche Zähmung setzte durch den Wechsel zu Warner nicht ein, die 1983 gegründeten Lips veröffentlichten auch dort freakige Alben – am irrsten war wohl Zaireeka, das seine Hörer mit der Auflage nötigte, die vier CDs, die es umfasste, gleichzeitig abzuspielen. Zwei Jahre später erschien dann das Meisterstück der Band: The Soft Bulletin.

Das Cover von The Soft Bulletin (1999).

Superlative bekleckern die damit belegten Arbeiten ja meist nur, doch das Album ist wohl eines der besten Rockalben der 1990er. Vor allem deshalb, weil Rock im Kommerzialisierungswahn nach Grunge schnell zur vorhersehbaren Schablonenmusik verkommen war und The Soft Bulletin am Ende der 1990er zeigte, was noch alles möglich ist.

Ein neues "Pet Sounds"

Nach Jahren der oft nur aufgesetzten Härte von Grunge-Klons eröffneten die Lips das Album mit schwindsüchtigen Streichern aus dem Computer, und Wayne Coyne, der Verrückte am Mikro, lehnte sich mit butterweich gerauchtem Gesang in den Song Race for the Prize.

Der Eröffnungssong des Albums: Race for the Prize.
flaminglips

Das Album klang und klingt so weit abseits von allem, was damals um Aufmerksamkeit buhlte. Warner soll bereits ein wenig die Geduld mit den Flaming Lips verloren haben, Coyne und Co beantworteten den Druck mit einem Meisterwerk unter ihren eigenen Bedingungen. Vergleiche mit Pet Sounds von den Beach Boys wurden nach seinem Erscheinen strapaziert – auch wieder so eine Versuperlativierung, die bloß die Hilflosigkeit illustriert, das Werk angemessen als eigenständige Arbeit zu beschreiben.

Konzentrierte Arbeit

Die größte Überraschung war wohl die Präzision der Songs, ohne dass es deshalb unlocker klingen würde. Nachdem die Band zeit ihrer Karriere unverblümt über ihre Vorliebe für Drogen aller Art gesprochen hatte, schien nach den Vorgängeralben niemand eine so konzentrierte Arbeit erwartet zu haben.

Man ringt ja heute noch um Worte, weiß gar nicht, wo ansetzen. Ist es Artrock? Psychedelic? Post-Rock? Space-Rock? Prog-Rock? Wahrscheinlich alles zusammen, aber auf eine Art erdacht und dosiert, wie man es davor und danach nicht gehört hat. Man kann Psychedelic auch ohne Wah-Wah-Pedal spielen, sich auch mittels einer Soul-Orgel ins All schießen lassen wie in What Is The Light?, das an einem anderen Tag auch Mark Hollis mit Talk Talk hätte einfallen können.

What Is The Light? – Ein Ausflug in die unendlichen Weiten des Flaming-Lips-Universums.
liouyeah

Doch es ist nicht der vermeintliche Irrsinn der Band, mit dem sie hier punktet. Das Album erblüht aus der Beherrschung heraus. Dass es nicht vollkommen nüchtern entstanden ist, dafür ist bereits das schöne Cover Indiz. Es soll der Ausschnitt eines Bildes sein, mit dem das Magazin Life 1966 einen Artikel über LSD versehen hatte.

David Bowie lässt grüßen

Das bedeutete für The Soft Bulletin – eine Metapher für eine bis zur Laschheit entspannte Stimmung –, dass es nicht ohne Ausflüge ins All auskommt. In What Is The Light? geht es los, Waitin' For A Superman zeigt ebenfalls in Richtung Glaskugelhelm, und irgendein David-Bowie-Momentum besitzen sowieso viele dieser Songs.

Wo ang'rennt? Nein, nur ein normaler Tag im Büro bei den Flaming Lips.
flaminglips

Doch derlei Zerlegungen in die Kleinstteile des Flaming-Lips-Universums bringen wenig. Die Band befand sich zu der Zeit schlicht in der Form ihres Lebens, das Album ist eigentlich eine Aneinanderreihung von wunderbaren Kleinoden, die in Summe nachgerade überwältigt. Und immer wieder ist es die Zärtlichkeit in Coynes Gesang, die die Songs ins Überirdische trägt. So wie er Ausflüge zur Sehnsucht in The Gash macht – "will the fight for sanity be the fight of our lives" – das ist ihm nicht wieder gelungen.

Ein weiterer Rohdiamant dieses Meisterwerks: The Gash.
Mental Set

Der Nachfolger Yoshimi Battles the Pink Robot (2002) war gut, wirkte aber vergleichsweise konstruiert – sogar in seiner Verrücktheit. Damit gelang der Band der Durchbruch im Mainstream damals, hochverdient. Die Flaming Lips geben heute immer noch lustige Konzerte, wer Coyne in seiner Plastikkugel über den Köpfen von Festivalbesuchern erlebt hat, weiß, dass das alles sympathische Kindsköpfe sind, und weit weg von poor and hungry – und hoffentlich näher an der Seife als damals. (Karl Fluch, 30.4.2019)