Eine Pistole kann den Lauf des Schicksals beeinflussen: Zhao Tao spielt in "Asche ist reines Weiß" eine Frau, die vom Strudel der Zeit mitgerissen wird.

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Chronist der Transformation: der Regisseur Jia Zhang-ke.

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Um den rasanten Transformationsprozess in China mit einem Beispiel auszustatten, greift Jia Zhang-ke gern auf das Telefon zurück. In den 1990er-Jahren, als er aus der Region Shanxi fürs Studium nach Peking wechselte, hatte man in den ländlichen Provinzen gerade das Festnetztelefon eingeführt, gleichzeitig gab es jedoch auch schon Handys. Chinas Umstieg zur Marktwirtschaft (ohne sich gefügig zu machen) ist mit keinem Filmemacher des Landes enger verknüpft als mit dem 48-jährigen Jia. Es ist die Geschichte seines Lebens, sagt er dazu gerne in Interviews – und damit auch unweigerlich die seiner Filme.

Entdeckt wurde Jia Zhang-ke im Jahr 2000 mit seinem zweieinhalbstündigen Platform, der mittlerweile zu den großen Epen dieses Jahrzehnts gezählt wird. Sein erzählerisches Grundprinzip ist schon voll entwickelt: Jia komprimiert die historische Zeit anhand einer Gruppe von Performern, die mit dem Wandel nicht Schritt halten können; der Verlust passiert zwischen den Schnitten. Die Schauplätze seiner Filme sind besonders signifikant. In Still Life, mit dem er 2006 den Goldenen Löwen in Venedig gewann, ist das gewaltige Bauprojekt des Drei-Schluchten-Damms im Jangtsekiang, für das nicht weniger als 1,2 Millionen Menschen zwangsdelogiert wurden, nicht nur Hintergrundpanorama des Films. Es fungiert vielmehr als innere Weiche, die die Lebenswege der Figuren neu ausrichtet.

Ode an die Unterwelt

Jeder, der die Arbeit kennt, wird in Asche ist reines Weiß daran denken, wenn die Heldin Qiao aus dem Gefängnis freikommt und genau an diesem Ort wieder Festland betritt. Jias jüngster Film deckt die Zeitspanne von 2000 bis zur Gegenwart ab, und zeitweise gewinnt man dabei den Eindruck, dass der Regisseur nochmals durch sein eigenes Oeuvre blättert. Tatsächlich ist die von seiner Stammschauspielerin und Ehefrau Zhao Tao großartig launig verkörperte Frau, die sich mit Streitlust und Humor ins Zentrum drängt, die Fusion zweier Figuren aus älteren Filmen, die er nun endlich zu ihrem Recht kommen lassen will.

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Im chinesischen Originaltitel des Films steckt der Begriff "Jiang-hu", womit der Regisseur nicht nur auf einen Filmklassiker verweist, sondern auf ein ganzes Genre einer oft romantisierten Unter- und Gegenwelt. Mit Qiao und ihrem Geliebten, dem Kleingangster Bin (Liao Fan), stellt Jia zwei Vertreter dieses randständigen Milieus ins Zentrum, deren Beharren auf einen kollektivierenden Ehrenkodex und dazugehörige Totems schon aus der Zeit gefallen erscheint.

Die Ablöse rückt im Jahr 2000 in rivalisierenden Jugendbanden heran, die sich – auch als Bild für den Raubbaukapitalismus – an keine Etikette mehr halten, sondern wild drauflos schlagen. Qiao rettet Bin mit einer Pistole das Leben, bezahlt das aber mit dem Gefängnis – aus dem sie fünf Jahre später in eine vollkommen veränderte Welt ausgespuckt wird.

Durch alle Stile hindurch

Der Mehrstimmigkeit der Filme von Jia Zhang-ke wird man jedoch nur dann gerecht, wenn man sie nicht in eine Schublade zwängt. Da passen sie auch nicht hinein. Asche ist reines Weiß ist kein reiner Gangsterfilm, er entwickelt sich weiter zum schmerzhaft-romantischen Drama und wechselt dabei auch seine visuellen Strategien. Wenige Regisseure des Weltkinos übersetzen Globalisierung so konsequent mit erweitertem Realitätssinn. Zwischen einem Dokumentarfilmhybrid wie 24 City, in dem er sich näher mit Architektur beschäftigt, und einem ausladenden Gangsterfilm wie A Touch of Sin gibt es bei Jia nur einen Unterschied in der Perspektivierung. Manchmal teilen sich diese Stile und Geschwindigkeiten sogar einen einzelnen Film.

So kann es passieren, dass Qiao auf ihrem Weg zurück in die einstige Kohlestadt Datong mitten in der Nacht einem Ufo begegnet. Der Blick ist in Asche ist reines Weiß in beide Richtungen zugleich gerichtet, die Gegenwart aber aus dem Takt. Er wollte zeigen, wie die Modernisierung auch auf Kosten von Loyalität geht, sagt Jia. Das Liebespaar wird dem Druck nicht standhalten können. Das Bild einer Überwachungskamera ist das letzte des Films. Es ist auch das letzte eines langen Entfremdungsprozesses. (Dominik Kamalzadeh, 26.4.2019)