Immer noch ein Symbol für die Ästhetik der Renaissance – und eines der am meisten kopierten Bildmotive: der "Vitruvianische Mensch", den Leonardo um 1490 in sein Tagebuch skizzierte.

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Immer noch ein Symbol für die Ästhetik der Renaissance – und eines der am meisten kopierten Bildmotive: der "Vitruvianischer Mensch", den Leonardo um 1490 in sein Tagebuch skizzierte.

Buschige Augenbrauen. Ein zerfurchtes Gesicht, umwallt von langen grauen Haaren und einem Vollbart. Aber diese Augen! Je länger man sie studiert, desto stärker und intensiver, ja geradezu durchdringend mutet ihr Blick an.

Das ist das Bild, das eine Porträtzeichnung von Leonardo da Vinci (1452-1519) überlieferte. Denkt man heute an ihn, so als verhutzelten Mann, in einem Studiolo sitzend und Bogen auf Bogen vollschreibend und -zeichnend mit Skizzen und Beschreibungen, die teils neben-, teils ineinander übergehend kosmologische Studien enthalten und Porträts, Landschaften und technische Inventionen, Fluggeräte, Kanalsysteme und Idealstädte, Klingenwagen, um auf dem Schlachtfeld gegnerische Soldaten kleinzuschnetzeln, und ätherische Engel, anatomische Details und rätselhafte Notate in Spiegelschrift, kurz: Erkenntnisse, die seiner Zeit weit voraus waren. Leonardo – das ist der Inbegriff des "uomo universale", des Renaissancemenschen.

Die wissenschaftliche Literatur über ihn mutet unüberschaubar an und dürfte eine mittelgroße Bibliothek füllen. Neue Bücher über ihn wie über seinen Rivalen Michelangelo Buonarroti wagen es nun, neue Zugänge zu graben und das nicht wenige Rätselhafte anders auszuleuchten.

Genie und Dandy

Bei Walter Isaacson wird Leonardo da Vinci, der unehelich geborene Sohn eines Notars, uns sehr nah – weil ihn der Amerikaner stark an die Gegenwart heranrückt. Isaacson, Journalist und vormaliger CNN-Chefredakteur, hat nicht nur zahlreiche Bücher geschrieben, so Biografien über Henry Kissinger und Steve Jobs, er ist auch Professor für Geschichte an der Tulane University in New Orleans. Ausgreifend ist seine "Die Biografie" benannte unterhaltsame Lebensschilderung. Die Biografie ist sie nicht, dafür ist ihm Europas historischer Hintergrund schlichtweg zu fremd.

Bei ihm ist Leonardo, bis Mitte 40 beeindruckend schön wie autodidaktisch hochgebildet, ein schwuler Dandy, der rosafarbene Tuniken trug, kostbare Stoffe ästimierte und sich pausenlos von einer Materie zur anderen abtreiben ließ. Lebendig zeichnet Isaacson, der die künstlerischen Arbeiten solide schildert, aber sich viel stärker für die technischen Innovationen begeistert, die Lebensstationen nach, Florenz, Mailand, wieder Florenz, Rom, am Ende Amboise an der Loire in Frankreich, sowie Leonardos immensen Wissensdrang und seine extreme Skrupelhaftigkeit. Kunsthistorische Debatten und wissenschaftliche Dispute spielen bei Isaacson kaum eine Rolle. Quellenkritik ist ihm fremd. Alles wird zum festverfugten Lebensroman.

Das Gegenprogramm liefert Bernd Roeck, der Ordinarius für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich war. Er schildert den historischen Kontext souverän, die Kriege und Konflikte, Nepotismus und Korruption und Religion, die Machtspielchen und Verschwörungen. Dafür bleibt sein Leonardo seltsam blass.

Kurioserweise entschlägt sich Roeck nahezu jeder kunsthistorischen Betrachtung, ja des intensiven Ansehens der Kunstwerke überhaupt. Kein Wort zur Maltechnik, dafür Interessantes zu Handwerklichem, wie etwa die Pinsel beschaffen waren, oder zu Honoraren und Lebenskosten.

Panisch aber nimmt er Reißaus, wenn es ans Betrachten eines Gemäldes geht. Sobald es auch nur etwas Dissidentisches in der Forschungsliteratur zu finden gibt, meidet Roeck sofort jede Stellungnahme oder Deutung. Am Ende weiß man gar nicht mehr, wer überhaupt auf den Bildnissen zu sehen ist. Dafür erscheint Leonardo nicht wie bei Isaacson als Tagträumer, sondern als überlasteter Multiversalkünstler, was ihn jenseits der 50 aufzehrte und vorzeitig altern ließ.

Der Rivale

Bei Kia Vahlands Buch über Leonardo und die Frauen muss man sich von Anfang an von einem verabschieden – vom Untertitel. Denn die Kunstkritikerin der "Süddeutschen", die ein Buch über Michelangelo und Raffael sowie eine Monografie über den Venezianer Sebastiano del Piombo schrieb, präsentiert keine "Künstlerbiografie". Vielmehr handelt es sich um eine Abfolge von klugen, essayistischen Interpretationen der Frauenbildnisse, die Leonardo schuf.

Manchmal ist das arg umgangssprachlich geschrieben. "Nun ist das mit dem Verstehen so eine Sache", liest man da. Nun ja, mit dem eleganten Formulieren auch. Kunsthistorisch ist das aber über weite Strecken informativ, besonders ihre Querverweise auf Inspirationen, Einflüsse und Transformationen, auf zeitgleiche Entwicklungen oder Vorläufer.

Wenn Kunsthistoriker eine Zeitmaschine bemühen könnten, dann würden sich viele ins Florenz des Frühlings 1504 beamen lassen, in den Saal der Fünfhundert im Palazzo Vecchio. Damals waren Leonardo und zeitgleich Michelangelo Buonarroti damit beauftragt, dort übergroße Teile zweier Wände mit florentinischen Triumphschlachten zu bemalen.

Keine der beiden Arbeiten wurde fertiggestellt, beide sind heute verschwunden. Die zwei Florentiner müssen sich belauert haben. Denn gegensätzlichere Konkurrenten dürfte es auf diesem Niveau innerhalb einer Stadt kaum je gegeben haben.

Michelangelo Buonarroti war um etwas mehr als 20 Jahre jünger als Leonardo. Er kam 1475 zur Welt. Und er wurde viel älter. Er starb 1564, mit für seine Zeit erstaunlichen 88 Jahren. Gänzlich anders als der elegante, umgängliche Ältere war er. Mürrisch, einzelgängerisch, hygienisch fragwürdig, was schon seinen Zeitgenossen buchstäblich in die Nase zog. Viele Jahrzehnte lebte er in Häusern, die armselig waren. Dabei starb er als einer der reichsten Künstler, die in Europa gelebt haben.

Gegensätzlicher hätten auch ihre Stile nicht sein können. Hier der Maler, der dutzendfach feinste Lasuren auftrug, um Übergänge weich zu machen, dort der Bildhauer und skulpturale Maler – dessen Figuren, etwa in der Sixtinischen Kapelle, so muskulös und so nackt waren. Hier der sein Schwulsein auslebende und genießende Leonardo, dort der fromme, zeitlebens mit seiner Homosexualität ringende Michelangelo. Der dafür mehreren Päpsten offensiv entgegentrat. Aber auch ins Visier der römischen Inquisition der Gegenreformation geriet.

Der englische Kunstschriftsteller Martin Gayford schrieb seine Michelangelo-Biografie 2013. Jetzt liegt der imposante Band in ausgezeichneter Übersetzung auf Deutsch vor. Um es gleich zu sagen: Dieses Buch ist großartig. Großartig erzählt, grandios in der Analyse, farbig in der Hintergrundschilderung, wissenschaftlich beeindruckend, dabei an keiner Stelle überladen. Und durchgehend von fulminanter Lesbarkeit. Berückend auch, dass dem niemals langweiligen Text der Verlag ein ausnehmend schönes Buchkleid geschneidert hat, Halbleinenband, verschiedenfarbiges Papier, schöne Typografie, sehr gut reproduzierte Abbildungen.

Vor fünfzehn Jahren nannte Charles Nicoll seine Leonardo-Biografie "Flights of the Mind" – was sich als "Fluchten des Geistes" übersetzen ließ. Darin klang aber auch Flüchten an, Fliehen und Aufbruch in Permanenz, Höhenflüge ins Absolute – ein Charakterzug von Leonardo wie Michelangelo, diesen noch immer aufregenden Kunst-Titanen. (Alexander Kluy, 27.4.2019)