Arife Vildan (12) wird attackiert, weil sie sagt, was viele Türken denken.

Foto: NTV

Die zwölfjährige Türkin Arife Vildan will Deutsche werden. Das sagte das Mädchen am türkischen Kindertag, dem 23. April, vor laufender Kamera dem türkischen TV-Sender NTV. "Ich möchte an der Universität in Köln Medizin studieren. Danach kann ich vielleicht Deutsche werden", antwortete die Schülerin auf die Frage der Moderatorin, was sie denn später einmal machen wolle. Seitdem kriegen sich viele Türken in Social Media gar nicht mehr ein.

Man sollte die Eltern bestrafen, twitterte ein hitzköpfiger Nationalist. Ein nicht nur rechtlich schwieriges Unterfangen, das dadurch weiter erschwert wird, dass Arife gar keine Eltern hat, sondern in einem Waisenhaus aufwächst. Ein anderer vermu tete gar, die Gülen-Bewegung könnte das Kind manipuliert haben.

Während Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP der vermeintlich vaterlandslosen Opposition die Schuld an dem patriotischen Total versagen des Kindes geben, sieht die säkulare CHP eindeutig die islamisch-konservative Regierung als Ursache solcher Äußerungen.

Fernziel Deutschland

Was viele Deutsche nicht wissen: Das Land ist bis heute Sehnsuchtsort fast aller Türken. Bei kemalistisch geprägten Großbürgern ist es noch immer nicht un üblich, die Kinder auf das "Alman Lisesi", die deutsche Schule, zu schicken, damit sie dort Goethe lesen, Chemie und Disziplin lernen.

Die Verbundenheit reicht zurück bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, weil das Deutsche Reich als einzige Großmacht keine kolonialen Interesse hatte und stattdessen die türkische Armee modernisierte und die Bagdadbahn baute. Ab den 1960er-Jahren kamen dann Gastarbeiter in ihren gebrauchten Mercedes-Karossen zum Sommerurlaub in die Heimat und schwärmten vom modernen Almanya und ihrer Mikrowelle.

Das änderte sich mit dem Wirtschaftsaufschwung der ersten Jahre der AKP -Regierung. Viele im Ausland geborene Türken kehrten in die Heimat ihrer Eltern zurück, weil sie dort mehr Chancen sahen. Doch dieser Trend hat sich gedreht. Seit den Gezi-Protesten 2013 findet ein Braindrain statt: Allein 2017 gingen rund 250.000 Türken ins Ausland. Viele junge, gut ausgebildete Türken zieht es nach Berlin, weil sie dort ein besseres, freieres Leben er warten. Mit der Gastarbeitergeneration haben diese Leute nicht viel gemeinsam, sie gelten als High Potentials.

Manchmal drückt ein Kind eben das aus, was viele Erwachsene insgeheim denken. (Philipp Mattheis, 26.4.2019)