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Die Regierung wollte eigentlich ihr eigenes Sparschwein in Form der kalten Progression schlachten, will jetzt davon aber nichts mehr wissen.

Foto: Dpa/Peter Kneffel

Die größte Steuerreform aller Zeiten, wie die Regierung unermüdlich unterstreicht, wird von Experten überwiegend positiv kommentiert. Zumindest was das Volumen der Entlastung anbelangt. Mit 8,3 Milliarden Euro, die in Etappen bis 2022 locker gemacht werden, übertrifft das Paket tatsächlich die Reformen der vergangenen Jahrzehnte. Dennoch müssen sich die Regierungsspitzen Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ) einige Kritik gefallen lassen.

Einerseits wegen fehlender struktureller Maßnahmen – beispielsweise betreffend Ökologisierung und konkrete Schritte auf der Ausgabenseite –, aber auch wegen der Entlastung an sich. Im Zentrum der Beanstandung steht dabei die – wieder einmal – verschobene Abschaffung der kalten Progression.

Wahlversprechen

Sie bezeichnet die zusätzliche Belastung des Realeinkommens, die durch die Inflation eintritt, wenn die Steuersätze und Tarifgrenzen nicht angepasst werden. Hier halten sich beiden Parteichefs nicht an ihre Wahlversprechen, die kalte Progression abzuschaffen. und bestätigen damit die Gesetzmäßigkeit, dass dieser Schritt immer Aufgabe der nächsten Regierung wird. Das sorgt auf sozialen Medien für heftige Schelte, lässt die Opposition wüten, aber auch Ökonomen und Politologen sehen darin einen Wermutstropfen.

Der Experte Peter Brandner hat die Wirkung der kalten Progression berechnet und unterscheidet in zwei Formen der Mehrbelastung: jene, die durch Inflation entsteht und jene, die auf Realeinkommensgewinne zurückzuführen ist.

Neos-Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn twitterte in Richtung Kurz und Strache: "Ihr habt wieder ein Versprechen gebrochen!" SPÖ-Finanzsprecher Jan Krainer: "Durch die kalte Progression verlieren bis zum Wirksamwerden der Steuerreform die ArbeitnehmerInnen weit mehr als sie sich dann ersparen, ja sie finanzieren sogar die Milliardengeschenke an die Wahlkampfspender von Sebastian Kurz mit."

8,5 Milliarden Mehrbelastung

Selbst der wirtschaftsliberale Thinktank Agenda Austria straft die Regierung bei dem Thema ab. Er hat errechnet, dass die kalte Progression von 2017 bis 2022 mehr als 8,5 Milliarden Euro ausgemacht haben wird. Daraus wird gerne der Schluss gezogen, dass die jetzt beschlossene Entlastung nicht einmal die zusätzliche Steuerleistung der Bürger abgelte.

Die Regierung bemüht sich, diese Rechnung zu falsifizieren, denn die 8,5 Milliarden Euro sind die Summe der Mehrbelastung über alle Jahre hinweg, während die 8,3 Milliarden an Entlastung jährlich wirken werden (wie gesagt: ab 2022). Kumuliert bis 2022 betrachtet kommt Türkis-Blau auf eine Abgabensenkung von 18 Milliarden Euro. Allerdings: Darin enthalten sind auch Entlastungen für Unternehmen – von der Körperschaftsteuersenkung, über günstigere Abschreibebedingungen bis hin zur Erhöhung des Gewinnfreibetrags. Da aber das Gros der Maßnahmen den Arbeitnehmern zugutekommt, ist eine Überkompensation der kalten Progression durch den jetzigen Pakt naheliegend.

Kurz: nicht sozial

Das ändert freilich nichts daran, dass ein Teil der Entlastung ab 2022 verpufft, wenn die Steuerstufen nicht an die Inflation angepasst werden. Das könnte politisch noch spannend werden. Der Politikberater Thomas Hofer meint, das Fortwirken der kalten Progression werden "einer der großen Angriffspunkte" sein. Für viele Bürger sei das ein echtes Ärgernis.

Kurz reagierte auf entsprechende Vorhalte mit einer neuen Ansage: "Die reine Abschaffung der kalten Progression halte ich nicht für besonders sozial. Das führt vor allem zur Entlastung der Besser- und Spitzenverdiener", meinte Kurz, auf seinen Wahlkampfschlager von 2017 angesprochen. Außerdem würde die Politik so die Möglichkeit verlieren, durch Reformen wie den Familienbonus mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Neuerliche Kritik

Die Volte erntete neuerliche Kritik. Die "ehrliche Variante" wäre eine automatische Anpassung der Lohn- und Einkommensteuer an die Teuerung, sagt der Volkswirt Florian Wakolbinger vom Institut GAW. Die kalte Progression sei eine "versteckte Steuererhöhung ohne Beschlüsse durch das Parlament". Wakolbinger sieht in der Kurz-Äußerung ein taktisches Manöver, um der Politik nicht die Möglichkeit zu nehmen, in regelmäßigen Abständen Entlastungen verkünden zu dürfen. Thomas Hofer stimmt da überein: "Bei einer Abschaffung der kalten Progression nimmt sich die Politik Spielräume, den Wohltäter zu spielen."

Auch die von Kurz aufgeworfene soziale Thematik wird nicht unwidersprochen gelassen. Zwar stimmt die These, dass die automatische Kompensation der steigenden Steuerlast wegen der progressiven Tarife Besserverdienern stärker zugutekommt. Aber, so meint Lukas Sustala von Agenda Austria: "Wie unsozial sind bloß die Schweden, Dänen, Kanadier und Niederländer ..."

All diese Länder hätten die kalte Progression abgeschafft, so Sustala. In manchen Staaten werden die Steuertarife oder –Stufen nicht an die Inflation, sondern an die Lohnentwicklung angepasst. Das führt dazu, dass die Durchschnittssteuern konstant bleiben, erläutert Experte Wakolbinger. Für Politikberater Hofer ist die Begründung für die Untätigkeit bei der kalten Progression ein "lustiger Spin" und eine "typische Marketinglösung". Letztlich sei aber entscheidend, ob und wie stark die Bürger die Entlastung 2022 spüren. Das hänge nicht nur von der Steuerreform ab, sondern auch von anderen Faktoren wie Mietpreisen oder Arbeitsmarkt. (Andreas Schnauder, 1.5.2019)