In der Hauptstadt London wird am Donnerstag zwar nicht gewählt, das Thema Brexit aber ist allgegenwärtig.

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Plakate für die örtliche Kandidatin oder die bevorzugte Partei ins Fenster zu hängen ist in Großbritannien zu Wahlkampfzeiten üblich. Vor der Kommunalwahl heute, Donnerstag, mochte Rose Burns ihre Anhängerschaft aber gar nicht erst darum bitten. Dabei kann die Stadträtin im St.-Bartholomäus-Bezirk von Winchester keine zehn Schritte tun, ohne dass links jemand über die Straße winkt und rechts ein Nachbar Glück wünscht. Warum also keine Plakate? Ganz einfach, erklärt Burns und lächelt ein wenig gequält: "Die Leute wollen nicht, dass ihnen Steine durchs Fenster fliegen."

Mag die stämmige Anwältin in ihrer Nachbarschaft auch noch so beliebt sein – wer wie Burns in den vergangenen Wochen Wahlkampf für die konservative Regierungspartei gemacht hat, erlebt vielerlei Anfeindungen. Im lieblichen Winchester, einer wohlhabenden 50.000-Einwohner-Stadt inmitten saftigen Weidelandes 100 Kilometer südwestlich von London, wirkt die Angst vor Steine werfenden Hooligans zwar leicht übertrieben. Gut zu sprechen ist auf die Tories aber kaum jemand.

Keine Rede vom Thema Nr. 1

An diesem sonnigen Aprilabend liefert Burns im Stadtviertel ihr letztes Flugblatt aus, ein hölzerner Kochlöffel bewahrt dabei ihre Finger vor den zuschnappenden Briefkastenschlitzen. Der Prospekt beschreibt stark personalisiert ihre Stadtratsarbeit der vergangenen vier Jahre und ihre Pläne für ein neues Kulturzentrum in Winchester. Von der Partei ist kaum die Rede, und drei Wörter kommen überhaupt nicht vor: "Theresa May" und "Brexit".

Dass die konservative Parteichefin und Premierministerin May den EU-Austritt nicht zum geplanten Termin Ende März bewerkstelligt hat, nehmen den Kandidaten der Tories viele übel. Hinzu kommen zwei weitere Negativfaktoren. Zum einen nutzen die Bürger eine Kommunalwahl gern dazu, die gerade regierende Partei zu ohrfeigen. Zum anderen verteidigen die Tories die weitaus größte Anzahl der Sitze in Stadt-, Kreis- und Gemeinderäten, weil sie vor vier Jahren im Sog der damals gewonnenen Unterhauswahl sehr gut abschnitten. Gewählt wird fast überall in England – bis auf die Hauptstadt London – sowie in Nordirland, wo aber andere Parteien antreten. Mehr als 8400 Mandate sind zu vergeben, davon haben Konservative wie Burns derzeit 4906 inne. Man müsse "mit Verlusten von 800 oder mehr Sitzen rechnen", glaubt Tory-Lord Robert Hayward.

Knappes Rennen

In Winchester hätten Mandatseinbußen auch den Verlust der Macht zur Folge: Schon bisher standen 23 Tories 22 Liberaldemokraten gegenüber, die größte Oppositionspartei Labour hat in der reichen Region traditionell ebenso wenig zu melden wie Grüne oder die Nationalpopulisten von Ukip. Der liberale Stadtrat Martin Tod gibt sich sehr vorsichtig: "Ich hoffe auf Zugewinne von zwei bis fünf Sitzen, alles darüber hinaus wäre sensationell."

Im Sonnenschein des Aprilnachmittags geht der 54-Jährige in der St. James's Terrace von Haus zu Haus und klingelt an den Türen. Viele Bewohner der schmucken Häuser aus dem 19. Jahrhundert sind daheim, die meisten plaudern gern ein wenig mit dem Kandidaten. Tod fragt nach lokalen Problemen, betont seinen Kampf für eine Fußgängerampel an der nahen Hauptverkehrsstraße, spricht sachkundig über Parkplatzprobleme und Müllabfuhr.

Die Nachbarn werden beobachtet

Die meisten Konversationen beginnen aber doch beim Thema Brexit. "Mein Vertrauen in die Politik war noch nie geringer", mault etwa Lance Usher, ein pensionierter Ölmanager, der die EU in der Nachfolge des römischen Imperiums sieht: "Wir sollten unsere Souveränität zurückgewinnen." Ein Nachbar gibt sich als Halbfranzose zu erkennen und schwärmt von seinem Anwesen in Spanien, hat jedoch ebenfalls für den Austritt gestimmt, aus Misstrauen gegen die "politische Union". Jaja, sagt ein dritter Anwohner, der gebürtige Ire Andrew Buggy, lachend, "die kenne ich. In meiner Straße weiß ich von beinahe allen ziemlich genau, wie sie abgestimmt haben."

Der 50-Jährige repräsentiert die Mehrheit in Winchester, wo beim Referendum 2016 60 Prozent in der EU bleiben wollten. Buggy hat an Großdemos für den Verbleib teilgenommen, weil er um die Wirtschaft seines Landes bangt: "Investitionen sind stark gefallen, das Geld fließt woanders hin", weiß der Manager, der sowohl in Asien wie im eigenen Land viel unterwegs ist. Er jedenfalls will nicht nur für Tod im Stadtrat stimmen, sondern plant auch schon sein Votum für die Europawahl in drei Wochen: "Da erhalten die Liberaldemokraten meine Stimme."

"Stop Brexit"

Tatsächlich hat es Tods Partei der Mitte bei beiden Urnengängen recht leicht. "Wir wurden früher ein bisschen zu sehr als EU-Rechtfertigungspartei wahrgenommen", erinnert sich der Leiter einer Wohlfahrtsorganisation, die Männer zu besserer Gesundheitsvorsorge ermutigen will. Diesmal ist der Slogan ganz einfach: "Stop Brexit". Entsprechende Plakate hat der Stadtrat zu Tausenden bestellt. Ob Buggy vielleicht eines im Garten aufstellen könnte? "Na klar", antwortet der und strahlt. (Sebastian Borger aus Winchester, 2.5.2019)