Bei einem seiner zahlreichen Österreich-Besuche hat Jean-Marie Lehn zuletzt die Ehrendoktorwürde der Universität Wien erhalten.

Foto: Heribert Corn

Mit Kryptonit – dem Stoff, der Superman in Bedrängnis bringt – haben die sogenannten Kryptanden, die Jean-Marie Lehn erstmals beschrieb, wenig zu tun. Wohl aber mit Super- bzw. Supramolekülen: Das sind organisierte Systeme aus mehreren Molekülen, die über spezifische Wechselwirkungen miteinander interagieren. Klingt komplizierter, als es ist: Ganz nach dem griechischen Wortsinn von krypto, verbergen, handelt es sich bei Kryptanden um organische Moleküle, die Ionen, also elektrisch geladene Teilchen, wie in einer Höhle festhalten können.

Durch ein solches Einschließen können Stoffe in Umgebungen gebracht werden, in denen sie sich normalerweise nicht gut lösen würden, was unter anderem bei Arzneimitteln eine Rolle spielt. Das Neuartige an der Entdeckung, für die Jean-Marie Lehn gemeint mit Charles J. Pedersen und Donald J. Cram 1987 den Nobelpreis für Chemie erhielt: Es konnten erstmals nicht nur die andockenden Moleküle, sondern auch jene, die die Höhle bilden, produziert werden. Die drei Chemiker haben durch ihren Forschungsschwerpunkt das Feld der supramolekularen Chemie begründet und erste wichtige Konzepte etabliert. Im Gegensatz zur molekularen Chemie konzentriert man sich hier nicht auf die Herstellung isolierter Moleküle, sondern auf Konstrukte aus mehreren Einheiten, deren Interaktion untersucht wird.

Der französische Forscher wurde auch in Österreich mehrmals ausgezeichnet. 2001 erhielt Lehn das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. Kürzlich wurde ihm das Ehrendoktorat der Universität Wien verliehen. Vor einigen Jahren war er Stammgast der vom Austrian Institute of Technology (AIT) und Ö1 gemeinsam veranstalteten Alpbacher Technologiegespräche.

STANDARD: Sie haben mehr als zwanzig Ehrendoktorate erhalten. Da stellt sich für Laien vielleicht die Frage, was daran noch so besonders ist?

Lehn: Es ist schön, das Ehrendoktorat zu bekommen, denn dabei wird man sozusagen ein Mitglied der jeweiligen Universität. Das erste habe ich 1984 von der Hebräischen Universität Jerusalem bekommen, wo man nicht erst auf den Nobelpreis gewartet hat – das war besonders wichtig für mich.

STANDARD: In Ihrer Jugend war aber nicht eindeutig, dass Sie Chemiker werden würden?

Lehn: Ja, ich habe mich in der Schule sowohl für klassische Studien – Griechisch, Latein, Philosophie – als auch für Naturwissenschaften interessiert. In meinem ersten Jahr an der Uni hatte ich Chemie, Physik und Biologie – darin musste man damals in Frankreich ein Examen ablegen, um Philosophie zu studieren, was ich für eine sehr gute Idee halte. Letztendlich habe ich mich für die Naturwissenschaften entschieden.

STANDARD: Weil Sie sie interessanter fanden?

Lehn: Philosophie ist viel interessanter! Die Probleme sind breiter. Aber es gibt keine Möglichkeit zu kontrollieren, ob das, was Sie sagen, stimmt oder nicht. Ich dachte mir, bei Molekülen kann ich nachprüfen, ob meine Annahmen richtig sind. Naturwissenschaft enthält eine Wahrheit, die am Ende automatisch herauskommt. Darüber kann man nicht streiten, nur um recht zu haben. Was ich nicht verstehe, sind Leute, die Ergebnisse fälschen. Es ist ganz verrückt, dass sie glauben, dass das nie aufgeklärt wird. Das geschieht nur, wenn das Thema nicht interessant ist – dann hat das aber auch keinen Zweck. Bei etwas Wichtigem wird zwangsläufig herausgefunden, wenn etwas gefälscht wurde. Die Wissenschaft ist selbstkorrigierend.

STANDARD: Wie haben Sie gemerkt, dass Sie mit Ihrer Arbeit ein neues Feld in der Chemie eröffnen?

Lehn: Das kam stufenweise. Vielleicht liegt es an meiner philosophischen Anschauung, aber ich baue Dinge gern in ein allgemeines Konzept ein. Das ging dann von den Molekülen hin zu komplizierteren Einheiten, den Supramolekülen und so weiter. Wenn man ein Konzept ausbauen kann, sieht man, dass es etwas Wichtiges, Neues sein könnte.

STANDARD: Die Wirkungsweise wird klassisch mit der von einem Schlüssel und einem Schloss beschrieben, die ineinanderpassen und füreinander spezifisch sind.

Lehn: Genau. Das Schlüssel-Schloss-Prinzip hat der Chemiker Emil Fischer schon 1894 im Hinblick auf Enzyme und ihr Substrat formuliert, das funktioniert ganz ähnlich. Jetzt nennen wir es molekulare Erkennung. Dabei geht es auch um das Erkennen von Information. Wenn Sie jemanden auf der Straße erkennen wollen, brauchen Sie Informationen über die Eigenschaften dieser Person. Zu Fischers Zeit hat er ein mechanisches Bild gebraucht. Das ist nach wie vor sehr stark. Wenn ich allgemeine Vorträge halte und sich die Leute auf dem Heimweg daran erinnern, dass das wie bei Schloss und Schlüssel funktioniert, ist das schon genug.

STANDARD: Viele Forschungsbereiche der Chemie und Molekularbiologie sind hochkompetitiv, Wie nehmen Sie das wahr?

Lehn: Für die Forschung im Allgemeinen ist das nicht wichtig. In der Praxis allerdings schon, auch für mich noch – durch meine Verantwortung für die beteiligten Studierenden und Mitarbeitenden. Und: Wenn man schon einen Einfall hat, möchte man diesen auch selbst publizieren. Das ist ein innerer Drang wie bei einem Künstler, der seine Ideen entwickeln will.

STANDARD: Sie sind mittlerweile emeritiert, forschen aber weiterhin mit einer Gruppe in Straßburg. Aufhören steht nicht auf dem Plan?

Lehn: Solange es mir noch möglich ist: nein. Eine fantastische Sache am Beruf des Forschers ist, dass wir immer junge Leute um uns haben. Dadurch entsteht ein Druck, denn man muss zeigen, dass man noch auf dem Damm ist. Man will unter den jungen Gehirnen selbst kein altes haben. Unterwegs bin ich schon etwas weniger.

STANDARD: Was ist Ihr aktuelles Forschungsthema?

Lehn: Das ist eine Entwicklung der supramolekularen Chemie: die adaptive Chemie. Hier geht es darum, Systeme aus Einheiten aufzubauen, welche sich an die Bedingungen anpassen. Sie verändern sich etwa mit einem Wechsel der Temperatur, des Drucks oder des Lösungsmittels. Eine Eigenschaft supramolekularer Bausteine ist, dass sie relativ schwach aneinanderbinden. Das heißt auch, dass sie auseinanderfallen und sich wieder zusammensetzen. Bei veränderten Bedingungen können sie sich anders verbinden, sie sind flexibel. (Julia Sica, 5.5.2019)