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Abgesehen vom Datenschutz: Es gibt Befürworter der totalen Überwachung.

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Der Siegeszug elektronischer und digitaler Technologien hat zu einem goldenen Zeitalter der Überwachung geführt. Das Bostoner Start-up Humanyze hat einen Badge entwickelt, der mit Mikrofon, Infrarot und Bewegungssensoren sowie Bluetooth ausgestattet ist und die Mitarbeiter überwacht. Das kassettengroße Gerät, das um den Hals getragen wird, analysiert die Bewegungen von Angestellten, ihre Begegnungen, Sprachmuster, Intonation und Interaktionen. Wer spricht mit wem wie lange? Wer hebt die Stimme? Wer schreit herum?Diese Verhaltensdaten wollen Kunden wie die Bank of America oder Deloitte auf ökonomisch relevante Metriken herunterbrechen: Verkaufszahlen, Umsatz, Kundenbindungsrate etc.

Der US-Paketlieferdienst UPS hat seine Lieferwagen schon vor Jahren mit Sensoren ausgestattet, um zu sehen, wann die Fahrer die Türen öffnen und schließen oder den Motor starten und ob sie angeschnallt sind. Die Investmentbank Barclays ließ unter den Schreibtischen ihrer Mitarbeiter Bewegungsmelder installieren, die mit Wärme- und Bewegungssensoren erkannten, ob jemand gerade an seinem Platz saß. Und selbst das Personal der US-Transportsicherheitsbehörde TSA, das Einreisende an Flughäfen scannt, wird von den Vorgesetzten elektronisch überwacht.

Der tayloristische Traum, die Arbeitsschritte streng zu takten und den Menschen zur mechanischen Maschine herabzustufen, scheint mit Tracking-Technologien in greifbare Nähe zu rücken. Abgesehen von den datenschutzrechtlichen Hürden stellt sich die Frage, ob Überwachung am Arbeitsplatz die Angestellten produktiver macht – oder unproduktiver.

Effizienzpeitsche

In einem Aufsatz für die Harvard Business Review ("In Praise of Electronically Monitoring Em ployees") stellte der MIT-Ökonom Andrew McAfee die These auf, dass elektronische Überwachung die Leistung der Mitarbeiter am Arbeitsplatz steigert. McAfee bezog sich in seiner Analyse auf Daten der Überwachungssoftware Restaurant Guard, die in knapp 400 amerikanischen Restaurants zur Diebstahlbekämpfung eingesetzt wird.

Das Computerprogramm analysiert minütlich Transaktionen in der Registrierkasse. Geht ein Essen oder Getränk ohne Bezahlung über die Ladentheke (etwa weil der Kellner einem Gast einen Drink spendiert und an der Kasse vorbeiwirtschaftet), meldet das System Alarm und informiert die Aufsicht. Die Auswertung der Daten ergab, dass die Unterschlagung von Essensrationen und Getränken zwar nur marginal zurückging, um etwa 25 Dollar pro Woche, der Wochenumsatz aber signifikant um sieben Prozent anstieg. Die Restaurantmitarbeiter strengten sich mehr an und kassierten sogar mehr Trinkgeld.

Daraus leitet McAfee einen Kausalzusammenhang zwischen Überwachung und Produktivität ab. Andere Wissenschafter widersprechen der These. Bereits 2001 fand man im Rahmen einer Studie der Purdue University heraus, dass die elektronische Überwachung der Mitarbeiter die Produktivität hemmt. Arbeitnehmer, die wissen, dass sie überwacht werden, hätten weniger Selbstkontrolle. Die Arbeitgeber würden sich "selbst ins Knie" schießen, wenn sie ihre Belegschaft über wachen, so die Forscher damals. Zahlreiche Studien belegen zudem, dass Überwachung am Arbeitsplatz den Stress erhöht und die Jobzufriedenheit senkt, was wiederum Faktoren sind, die der Produktivität abträglich sind.

Anpassung an Maschinen

Gerade in kreativen Berufen kommt es auf Selbstbewusstsein und individuelle Selbstentfaltung an. Die britischen Anthropologen Michael Fischer und Sally Applin kommen in einer Untersuchung ("Watching Me Watching You") zu dem Ergebnis, dass Überwachung am Arbeitsplatz eine Kultur schaffe, "in der Menschen öfter ihr Verhalten ändern, um sich Maschinen anzupassen und mit ihnen zu arbeiten". Überwachung macht den Menschen maschinenähnlicher.

Ähnliches beobachteten auch die Verhaltens- und Organisationsforscher Michel Anteby und Curtis K. Chan von der Boston University. Bei einer Befragung unter Mitarbeitern der TSA fanden die Forscher heraus, dass sich das Sicherheitspersonal bei der Durchleuchtung von Passagieren und Gepäckstücken zwar selbst beobachtet und sichtbar fühlte, jedoch auch unsichtbar gegenüber den Vorgesetzten. Man kann nicht durch gute Leistungen auffallen.Diese "paradoxe Erfahrung" führe dazu, dass Überwachung als zwanghaft empfunden werde und die Mitarbeiter Anpassungsstrategien entwickeln, um unerkannt zu bleiben. Das Management interpretiert diese Versuche wiederum als Rechtfertigung, mehr Überwachungstechnologien zu installieren.

So entsteht ein Teufelskreis, wo alles verdächtig erscheint – sogar das Personal, das Terrorverdächtige aus dem Verkehr ziehen soll. Im Bereich der Flughafensicherheit mag Überwachung bis zu einem gewissen Grad funktional sein. In anderen Berufsfeldern schafft sie aber ein Klima der Angst, das der Leistungsfähigkeit und Kreativität abträglich ist. Das Kalkül, durch Disziplinierung Effizienzgewinne zu erzielen, geht nicht immer auf. (Adrian Lobe, 8.5.2019)