Zweieinhalb Hektar: So viel Fläche sollte in Österreich jeden Tag maximal versiegelt werden. Das war zumindest das Ziel der Bundesregierung im Jahr 2002. Die Wahrheit sieht anders aus: In den letzten zwei Jahren wurden täglich 12,9 Hektar Boden durch Bau verbraucht, das sind rund 30 Fußballfelder. Was hat das mit Baukultur zu tun? Alles. Denn der Schaden durch die Zersiedelung ist sowohl ein ökologischer als auch ein ästhetischer: leer stehende Bauten in den Ortskernen, Umfahrungsstraßen, Kreisverkehre, unansehnliche Gewerbegebiete und Einfamilienhausödnis an schmucklosen Ortsrändern. Das reale Bild der Heimat entfernt sich immer weiter von den almwiesenfixierten Heile-Welt-Sujets der Österreich-Werbung – dennoch weisen Bürgermeister weiterhin Bauland und Verkehrsflächen aus. Fast verniedlichend nennt man es den Donut -Effekt, wenn das Zentrum zum Vakuum wird.

Ein modernes Dorf im hölzernen Kleid: Das Gemeinschaftsprojekt der Baugruppe B.R.O.T. in Pressbaum zeigt, dass ökologische Baukultur auf dem Land nicht nach Birkenstock aussehen muss.
Foto: kurt hörbst/firma weissenseer

Der Politik ist dieses Problem durchaus bewusst: Die drei Baukulturreports aus den Jahren 2006, 2011 und 2018 mahnen in zunehmender Dringlichkeit zur Stärkung der Ortskerne. Auch die Baukulturellen Leitlinien des Bundes, im Mai 2017 beschlossen, tun das. "Orts- und Stadtkerne stärken" und "Flächen sparsam und qualitätsvoll entwickeln" lauten gleich die ersten der insgesamt 20 Leitlinien.

Einfamilienhaus heißt Zersiedelung

Und dennoch: "Obwohl wir bereits seit gut zehn Jahren auf die problematische Versiegelung der Flächen hinweisen, ändert sich nichts an der Realpolitik", sagt Renate Hammer. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin des Institute of Building Research & Innovation und Sprecherin der Plattform Baukulturpolitik, die den Bund berät. "Die Versiegelung ist jedoch eine Konsequenz dessen, was wir vorher entschieden haben. Verkehrs- und Siedlungspolitik sind keiner weitreichenderen Planung untergeordnet. Wir verstehen jeden Wunsch nach einem Einfamilienhaus, aber die Summe ist der Knackpunkt. Die Summe der Einfamilienhäuser heißt automatisch Zersiedlung."

Sind die Baukultur-Reports also nicht mehr als Absichtsbekundungen, die dann in den Schubladen verstauben? Nein, denn in Österreich ist nicht alles düster. Immer mehr Gemeinden steuern in Eigeninitiative gegen den Trend. Zwischenwasser in Vorarlberg oder Hinterstoder in Oberösterreich wurden bereits mit dem Baukulturgemeinde-Preis ausgezeichnet und sind als Best-Practice-Beispiele Reiseziele österreichischer und deutscher Gemeinderatsdelegationen. Die Tiroler Gemeinde Fließ füllte ihren verödeten Ortskern, der von Einzelhandel und Gastronomie verlassen war, mit einem neuen Gemeindeamt, einem Supermarkt, Arztpraxen und Wohnungen.

Gegen den Donut-Effekt

Den Anstoß dazu gab das Architekturbüro Nonconform, das sich seit Jahren auf den ländlichen Raum spezialisiert hat und Gemeinden mit Workshops und Beratung zur Seite steht. "Wir müssen dem Donut -Effekt etwas entgegensetzen und die Orte wieder zu Marmeladekrapfen machen. Das Süßeste, die Fülle des Lebens, muss in die Mitte zurück", plädiert Nonconform-Architekt Roland Gruber. So kann einerseits der Ortskern wieder zum Treffpunkt des Zusammenlebens werden, andererseits entdecken immer mehr heimische Architekten das Land als baukulturelles Territorium. Die Architekten Schneider Lengauer haben sich mit feinfühligen Ergänzungen in Oberösterreich einen Namen gemacht, Elmar Ludescher und Philip Lutz fügten einem Weingut in Spitz an der Donau einen Zubau an, der lokale Bautraditionen – Holz und dick verputzte Wände – in neue Form bringt. Das Büro Nonconform selbst realisierte mit der Baugruppe B.R.O.T. in intensiver Kooperation ein neues Zuhause im niederösterreichischen Pressbaum – ganz in Holz. Vorarlberg schließlich gilt schon länger europaweit als Musterland der regionalen Baukultur.

Bei der Neugestaltung des Weinguts Högl in der Wachau trifft lokale Bautradition auf neue Formen.
Foto: Elmar Ludescher

Der seit 20 Jahren bestehende Verein Landluft schließlich widmet sich engagiert der ruralen Baukultur und veranstaltete im April an der TU Wien die zweiwöchige Landluft-Universität, die Gemeindevertreter und Studierende zusammenbrachte. Mit dem Ziel, die Landflucht der Jungen umzukehren, wie Roland Gruber fordert: "Wir brauchen ein Aufs-Land-Semester statt eines Auslandssemesters!"

Gemeinden und junge Leute zusammenbringen – darauf setzt auch Elsa Brunner von der Geschäftsstelle des Beirats für Baukultur im Bundeskanzleramt, die federführend bei der Umsetzung der baukulturellen Leitlinien ist. Seit dem Leitlinien -Beschluss vor zwei Jahren habe sich einiges getan, sagt sie dem STANDARD. "Wir werden bis zum Sommer intensiv mit allen neun Bundesländern gesprochen haben, um die nächste Ebene der Verwaltung zu erreichen." Die Erfolge bisher: Kärnten hat sein eigenes Leitlinienprogramm gestartet, Salzburg die Baukultur im Kulturentwicklungsplan des Landes verankert.

"Gesprächskultur"

Dass Wörter geduldig sind, weiß man auch beim BKA. "Baukultur ist Gesprächskultur", betont Brunner. "Man muss hinfahren, reden, überzeugen." Viele derjenigen, die an der Ausarbeitung der Leitlinien beteiligt waren, sind inzwischen selbst zu Akteuren geworden, nicht nur in den Ländern, auch in Regionen wie Carnuntum in Niederösterreich. "Wenn wir von Baukultur sprechen, geht es immer um die Themen Kultur, Raum und Klima. Diese Aspekte sind untrennbar verbunden. Die Stärkung der Ortskerne etwa hat unmittelbar mit der Kultur und dem Klimawandel zu tun. Inzwischen ist es uns gelungen, das allen Beteiligten zu vermitteln. Heute stimmen wir uns in den Strategien fachübergreifend ab, das ist ein großer Fortschritt."

Der verödete Ortskern der Tiroler Gemeinde Fließ wurde neu gestaltet – mit Bürgerbeteiligung.
Foto: georg herder

Die Verbesserung der Baukultur soll aber keine Fachdiskussion bleiben. Noch 2019 soll ein Baukulturmonitor etabliert werden, ein elektronisches Tool, mit dem die Öffentlichkeit die Umsetzung der Maßnahmen verfolgen kann. Für Bürgermeister und Gemeinderäte, die mit den teils trockenen Daten des Baukulturreports überfordert sind, werden handliche Folder erstellt. Eine Begleitpublikation hat die Maßnahmen in der kulinarisch-metaphorischen Form von 33 Baukulturrezepten aufbereitet. "Das Format Stammtisch haben wir ausprobiert, das hat sehr gut funktioniert", sagt Brunner. Den Kampf gegen Zersiedelung, das hat man seit 2002 gelernt, kann man nicht nur verordnen. Man muss überzeugen. (Maik Novotny, 3.5.2019)