Hermynia Zur Mühlen, "Werke". Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung herausgegeben von Ulrich Weinzierl. Mit einem Essay von Felicitas Hoppe. Bibliothek Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des 20. Jahrhunderts. € 49,- / 4 Bände im Schuber, 2581 Seiten. Paul Zsolnay, Wien

Foto: Paul Zsolnay Verlag, Wien

Schade, dass der Titel schon vergeben ist: Blaues Blut und rote Fahnen. So heißen die 1969 erstmals erschienenen Erinnerungen von Ruth von Mayenburg, zwei Jahrzehnte hindurch Ehefrau des 1970 von der Partei gefeuerten österreichischen intellektuellen Paradekommunisten Ernst Fischer, die immerhin Mitte der Dreißigerjahre als sowjetische Agentin im Dritten Reich tätig war.

Die Schriftstellerin Hermynia Zur Mühlen (1883 bis 1951), fast eine Generation älter als Mayenburg, hatte sich damals längst schon vom Stalinismus abgewandt. Sie war aber auch viel früher in die KP eingetreten und hatte sich seit 1919 mit ihren Texten für den Sieg des Sozialismus eingesetzt. Keine Freude für ihre Herkunftsfamilie, denn ihre Eltern – der Vater ein Graf Folliot de Crenneville, die Mutter eine Gräfin Wydenbruck – zählten zum altösterreichischen, zum europäischen Hochadel. Als Zur Mühlen (das "von" ihres ersten Gemahls, eines baltischen Rittergutsbesitzers, lehnte sie ab) ihre Jugendmemoiren Ende und Anfang (1929) publizierte, wurde sie erstmals als Autorin auch von einem nicht proletarisch-revolutionären Publikum wahrgenommen. Meist positiv, wiewohl mit Einschränkungen.

Hermynia Zur Mühlen im Gespräch mit dem deutschen Autor und Verleger Wieland Herzfelde.
Foto: Literaturarchiv/Akademie der Künste Berlin

Hermann Bahr etwa lobte den "schönsten Nekrolog" auf das entschwundene k. u. k. Österreich, der ihm je untergekommen sei, konnte jedoch seine Entrüstung über die ideologischen Abwege der Verfasserin nicht verhehlen: eine "Cousine Franz Ferdinands"! Nicht nur das: Ihr Großvater war Generaladjutant Kaiser Franz Josephs und dessen Oberstkämmerer gewesen, Vater und Onkel vertraten als Gesandte und Botschafter die Doppelmonarchie im Ausland. Diesem Umstand verdankte die einzige Tochter aus gräflichem Haus mit einer ungeliebten, weil nicht liebenden Mutter die Internationalität ihrer jungen Jahre, den Maghreb und den Nahen Osten eingeschlossen.

Existenz voller Widersprüche

Der einzige Ort, an dem sie sich zu Hause fühlte, war freilich Gmunden am Traunsee, in der Villa der verständnisvollen, liberalen, aus England stammenden Großmutter. Das Schicksal, unstet und flüchtig zu sein, bestimmte ihr Leben: auf dem estnischen Rittergut des ersten Ehemanns, der sie so wenig verstand wie sie ihn; ihre Flucht in die Lungenkrankheit, die sie zwischen 1913 und 1919 auf Thomas Manns Zauberberg, nach Davos, führte; dann kam Frankfurt, Hochzeit des kommunistischen Engagements; 1933 Emigration nach Wien; 1938 Exil in der Tschechoslowakei, 1939 in Großbritannien.

Eine Existenz voller Widersprüche: Rebellisch von klein auf, blieb sie bis zuletzt, noch in verwanzten Hotelzimmern, eine große Dame, eine Dame von Welt. Tiere, insbesondere Hunde, trotz ihrer angegriffenen Gesundheit jede Menge Zigaretten und Literatur waren ihre Leidenschaften. Die vierbändige Auswahl ihrer Werke, herausgegeben im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung, vermag trotz rund 2600 Seiten nicht einmal die Hälfte ihres OEuvres wiederzugeben, von den zahllosen Übersetzungen (sie übertrug u. a. die meisten von Upton Sinclairs Romanen ins Deutsche) völlig abgesehen.

Hermynia Zur Mühlen war sogar die Mitschöpferin eines eigenen Genres: der – naturgemäß politisch links – engagierten Märchen. Deren Erstausgaben, illustriert von George Grosz, John Heartfield und Rudolf Schlichter, sind heute begehrte, teure Sammlerstücke. Hat der Kapitalismus also auch in ihrem historischen Fall, gleichsam als eine dialektisch-ironische Pointe, gesiegt? Nicht wirklich.

Antinazi-Roman

So christlich fundiert ihr literarischer Einsatz gegen Ausbeutung, Faschismus und Nationalsozialismus war, hielt sie auch nach dem frühen Abschied von der moskauhörigen Internationale Stalins um 1930, als sie sich als "Linkskatholikin" definierte, an ihren humanistischen Grundsätzen fest: im Zweifel gegen die Männer und für die Frauen, immer auf der Seite der Erniedrigten und Beleidigten und Verfolgten, ob Juden oder nationale Minderheiten. Entschlossen stellte sie sich 1933 wider die Gleichschaltungsbemühungen der deutschen Verlage (mit einem vielbeachteten offenen Brief in der Wiener Arbeiter-Zeitung), sie veröffentlichte 1934 einen der ersten Antinazi-Romane (Unsere Töchter, die Nazinen), dessen Buchausgabe 1935 für eine geharnischte Protestnote des deutschen Gesandten Franz von Papen in Österreich sorgte.

In Bezug auf einige längere Prosatexte aus der Mitte der Zwanzigerjahre sprach sie danach selbst von "Propagandaerzählungen", deren eine ihr übrigens eine Anklage vor dem Leipziger Reichsgericht wegen Hochverrats eintragen sollte. Und gewiss: Manche Teile auch dieser Auswahledition sind mittlerweile ohne ihren zeitgeschichtlichen Kontext nicht zu verstehen, gar zu würdigen. Niemand, der auf seine künstlerische Reputation bedacht ist, würde derlei inzwischen schreiben. Zweckgerichtete Literatur ist epochenbedingt, es ging um Aufklärung und Bekehrung der Leserinnen und Leser im Sinne Hermynia Zur Mühlens, um Bekehrung zur Solidarität.

Heilserwartungen

Kein Geringerer als Joseph Roth hat 1924 aus Anlass von Zur Mühlens Band Der rote Heiland geurteilt, die Novellen seien "dichterischer, als der Titel vermuten lässt. Man hat in Deutschland viel Vorurteile und noch mehr Angst vor Büchern 'mit Tendenz'. (...) Wenn man will, ist es eine christliche Tendenz. Man findet sie zum Beispiel auch im Neuen Testament. Deshalb hätte es genügt, den Band 'Der Heiland' zu nennen. Die Farbe ergibt sich von selbst." Solch Befund des nüchternsten Säufers und besten deutschsprachigen Stilisten des 20. Jahrhunderts bringt das Amalgam aus christlicher und marxistischer Heilserwartung Zur Mühlens präzise auf den Begriff.

Dem meisterlichen ungarischen Prosaautor Sándor Márai, der eine Zeitlang in Frankfurt mit ihr und ihrem Lebensgefährten Stefan Klein und den unvermeidlichen Hunden unter einem Dach wohnte, verdanken wir ihr schönstes Porträt: "Keine andere Frau hat einen so starken, so tröstlichen, im komplizierten Sinn des Wortes erschütternden Eindruck auf mich gemacht wie diese junge österreichische Aristokratin. Sie war groß von Wuchs und krankhaft mager; in ihrem bis auf die Knochen eingefallenen Gesicht lebten nur die beseelten Augen, von Todesfurcht geadelte, in menschlicher Solidarität warm leuchtende Augen."

Lebensunterhalt

Sie schrieb unentwegt: politische Kriminalromane unter amerikanischem Pseudonym, Fortsetzungsromane mit unterhaltender oder sozialkritischer Schlagseite, Skizzen und Feuilletons. Sie musste schreiben, schrieb um ihr Leben, ihren Lebensunterhalt. Bereits ihr bis dahin umfangreichster, autobiografisch gefärbter Roman Reise durch ein Leben (1933) konnte nicht mehr im Deutschland publiziert werden, dort waren auch ihre Texte der nazistischen Bücherverbrennung zum Opfer gefallen. Die traurige Geschichte einer jungen Frau von Stand, die sich in ihrer Gegenwart nicht mehr zurechtfindet – zerbrochen sind Welt und Familie, das alte Europa.

In der Slowakei 1938, geflohen vor den NS-Schergen, begann sie den als Abschlussband einer Trilogie geplanten zeithistorischen Roman Als der Fremde kam über die vom Dritten Reich betriebene gewaltsame Zerschlagung der Tschechoslowakei. Was sie darzustellen versucht habe, sei eigentlich kein Roman, eher "eine Reportage", meinte sie: "Die Ereignisse habe ich zum Teil selbst gesehen, teils wurden sie mir von Augenzeugen berichtet. Ich betone versucht, mein Talent reicht nicht aus, um das Grauen fühlbar zu machen oder um die unsägliche Rohheit und Gemeinheit zu schildern, die der Faschismus in den Menschen entfesselt."

Wer war Hermynia Zur Mühlen? Jedenfalls eine faszinierende, unbeugsame Spezies Mensch und Künstlerin, wie sie so seit Generationen nicht mehr produziert wird, werden kann. Die rote, die "Genossin Gräfin", eine kommunistische Katholikin. Von beidem hatte sie sich eine bessere, eine erlöste Zukunft versprochen. Vergeblich. Bestattet wurde sie auf dem katholischen Teil des Radlett Churchyard unweit von London. Ein Stück Rasen ohne den geringsten Hinweis auf die Tote. An ihrem Grab kann Hermynia Zur Mühlens nicht gedacht werden. (Ulrich Weinzierl, 4.5.2019)