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Wie groß muss der soziale Schutzschirm sein? Türkis-Blau will ihn vor allem für die arbeitende inländische Bevölkerung aufspannen.

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Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel besuchte im Vorjahr mit seiner Frau das vom neuen Chef Sebastian Kurz ausgerichtete ÖVP-Sommerfest. Kurz und Schüssel tauschen sich regelmäßig aus.

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Kurz bei der Präsentation der Steuerreform mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache. In den kommenden Jahren sollen Entlastungen mit einem Volumen von 6,5 Milliarden Euro erfolgen.

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Wien – Wolfgang Schüssel hat es der SPÖ noch vergleichsweise einfach gemacht. Bald nach der Neuauflage von Schwarz-Blau im Jahr 2002 machte sich der damalige Kanzler an die große Pensionsreform, die wegen der Umstellung auf eine lebenslange Durchrechnung für die jüngere Generation zu deutlich niedrigeren Pensionen geführt hat. Wissend, dass solchen Themen beim Wahlvolk nicht gerade auf Begeisterung stoßen, versuchte Schüssel die Gewerkschaft an Bord zu holen. Stimmt die Arbeitnehmervertretung zu, kann so ein Vorhaben schließlich nicht so schlecht für die Arbeitnehmer sein.

Die Hoffnung war aber natürlich vergebens. Alfred Gusenbauer, der bei seiner ersten Wahl als SPÖ-Vorsitzender trotz Zugewinnen deutlich hinter dem Knittelfeld-Profiteur Schüssel blieb, wäre um ein zentrales Kampagnenthema umgefallen. Und so stellte sich der rote ÖGB-Boss Fritz Verzetnitsch am 23. Mai 2003 nach einer finalen 14-stündigen Verhandlungsrunde vor die Presse und erklärte die Gespräche für gescheitert. Wie sehr die Pensionskürzungen die Bürger und Bürgerinnen aufregten, hatte sich schon in der Woche davor auf dem Heldenplatz gezeigt. Trotz schweren Unwetters folgten mehr als 100.000 Menschen dem Protestaufruf der Gewerkschaft.

Image der sozialen Kälte verfestigte sich

In Fokusgruppen, mit denen Stimmungslagen der Wähler abgetestet werden, hinterließ die Pensionsreform damals deutliche Spuren, erzählt der Politikanalytiker Peter Filzmaier. Das von den Genossen immer wieder getrommelte Image der sozialen Kälte verfestigte sich. Gusenbauer, der sich in Anspielung auf die Eurofighter als "Sozialfighter" inszenierte, gewann – zur Überraschung vieler – die Wahl 2006 und wurde Kanzler.

"Uns ist nicht nur die Solidarität mit jenen wichtig, die soziale Leistungen in Anspruch nehmen müssen, sondern auch mit jenen, die soziale Leistungen finanzieren und erbringen."

ÖVP-Grundsatzprogramm

13 Jahre später gibt es wieder eine ÖVP/FPÖ-Koalition, der von der Opposition "soziale Kälte" vorgeworfen wird. Die Reform der Mindestsicherung produziere "Kinderarmut", beklagt da SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner im ORF. Die Gewinner der in dieser Woche vorgestellten Steuerreform seien vor allem die "ganz großen Konzerne", betont ihr roter Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda. SP-Finanzsprecher Jan Krainer rechnet vor: "KTM-Chef Stefan Pierer, einem Sponsor von Kanzler Sebastian Kurz, bringt die Senkung der Körperschaftsteuer 180.000 Euro im Monat. Der Mitarbeiterin beim Anker bringt die Tarifreform sieben Euro im Monat."

Zielgruppen bedienen

Ein Pendant zur Pensionsreform, das bei breiten Teilen der Bevölkerung zu massiven Einschnitten führt, hat die aktuelle Koalition allerdings noch nicht geliefert. Sie unterscheidet sich nicht nur farblich von Schüssels schwarz-blauer Regierung. In regelmäßigen Abständen werden von Türkis-Blau sozialpolitische Akzente gesetzt, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.

Auf die unterschiedlichen Zielgruppen von ÖVP und FPÖ wird dabei gezielt Rücksicht genommen. Was damit gemeint ist: Die Volkspartei wird, wie übrigens auch Neos und Grüne, überdurchschnittlich oft von Besserverdienern gewählt. Die freiheitlichen Wähler sind eher in den unteren Einkommensgruppen angesiedelt, weiß Filzmaier zu berichten.

Zuckerln für untere Einkommen

Abwechselnd werden nun diese Wählersegmente bedient. Gleich zu Beginn der Periode senkte die Koalition die Arbeitslosenversicherungsbeiträge für niedrige Einkommen bis 1948 Euro. Mit 1. Jänner des aktuellen Jahres trat der Familienbonus in Kraft, der so ausgestaltet ist, dass er vor allem von mittleren bis gut verdienende Familien voll ausgeschöpft werden kann. Die Mindestpensionen wurden heuer zudem deutlich über der Inflation angepasst.

Auch die nun geplante Steuerreform folgt diesem Muster. In einem ersten Schritt sinken 2020 die Krankenversicherungsbeiträge für kleinere Einkommen bis 2200 Euro. In den beiden Folgejahren wird dann die eigentliche Tarifsenkung umgesetzt, von der alle Steuerpflichtigen profitieren werden.

Fahrplan kein Zufall

Die letzte Etappe im planmäßigen Wahljahr 2022 ist kein Zufall. Koalitionäre Verhandler erzählten im kleinen Kreis schon vor Monaten, man werde dafür sorgen, dass die Bürger die Entlastung am Wahltag nicht bereits wieder vergessen haben. Auch da hat man von Schwarz-Blau gelernt. Schüssel, mit dem sich Kurz regelmäßig austauscht, setzte auf eine Steuerreform, die in den Jahren 2004 und 2005 in Kraft getreten ist. Bei der Wahl Ende 2006 dankten es ihm die Wähler nicht mehr.

An der Entlastung der Arbeitnehmer gibt es daher aus ökonomischer Sicht wenig auszusetzen. Experten sind sich einig, dass der Faktor Arbeit hierzulande zu stark belastet ist. Daher setzt die Kritik auch bei der erwähnten Senkung der Körperschaftsteuer, der fehlenden Ökologisierung und der offenen Gegenfinanzierung an. Wo nämlich nun genau eingespart werden soll, um die fehlenden Milliarden aufzubringen, ist absolut offen.

Wer sind die Verlierer?

Während also beim Steuerthema noch unklar ist, ob oder in welchem Ausmaß es im Gegenzug zu Kürzungen im Sozialbereich kommen wird, stehen die Verlierer in anderen Bereichen bereits fest. Bei der neuen Sozialhilfe sind es in erster Linie Mehrkindfamilien und Flüchtlinge.

Der Fairness halber muss man aber sagen: Im Vergleich zu den Gesamtausgaben von einer Milliarde Euro halten sich die Dimensionen in Grenzen. Bei subsidiär Schutzberechtigten werden nächstes Jahr laut Prognosen 20 Millionen eingespart, bei den Kinderzuschlägen sind es 29 Millionen. Letzterer Punkt treffe "hauptsächlich Familien mit Migrationshintergrund", schreibt das Sozialressort im Gesetzesentwurf fast schon stolz.

Sparen bei Zuwanderern

Das Prinzip, bei den häufig nicht wahlberechtigten Zuwanderern zu sparen, wurde auch bei der Indexierung der Familienbeihilfe durchgezogen. All diese Dinge wurden öffentlich breit diskutiert und haben auch einen gewissen Niederschlag gefunden. In einer aktuellen Umfrage für den STANDARD gaben immerhin 39 Prozent der Befragten an, die Regierung verbreite soziale Kälte, 42 Prozent finden, sie begünstige einseitig Reiche und die Unternehmen.

Nervös werden müssen Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache angesichts solcher Werte aber noch nicht. Bisher ist es Opposition und Gewerkschaft erst ein Mal gelungen, breite Massen zu mobilisieren: bei der Arbeitszeitflexibilisierung aka Zwölfstundentag. Eine Demo im Juni des Vorjahres erreichte beinahe Pensionsreform-Dimensionen. Da sich die Folgen der Verschärfungen in der realen Arbeitswelt dann aber in Grenzen hielten, flaute die Aufregung rasch wieder ab.

Bei der Zusammenlegung der Krankenkassen kam sie erst gar nicht auf. Diese führt zwar zur Entmachtung der roten Funktionäre, unmittelbare Einschnitte bei den Gesundheitsleistungen gibt es bis jetzt aber nicht. Den roten Sozialsprecher Josef Muchitsch beunruhigt das noch nicht. "Kurzfristig klingt bei Türkis-Blau immer alles wunderschön, langfristig wird sich aber zeigen, dass es zu Einschränkungen bei den Versicherten kommt. Irgendwann merken die Leute das. Unter Schüssel haben wir sechs Jahre gebraucht, bis wir wieder das Vertrauen der Wähler gewonnen haben. Es wird auch jetzt nicht so schnell gehen." (Günther Oswald, 5.5.2019)