"Platsch" – "platsch" – "platsch". Jeder Ort hat seine Morgengeräusche. Das Rückfahrpiepen des Lasters vor dem Supermarkt. Das Kinderaufweckgebrüll von schräg gegenüber. Das Pfauchen der Kaffeemaschine. Morgengeräusche erkennt man. Sie sagen dem Schläfer, wo er aufwacht. Weil der Wecker überall gleich klingt. Wenn ich die Kinder meiner Nachbarn höre, weiß ich, wo ich bin. Aber "platsch", "platsch", "platsch"? Das ist neu. Ungewohnt. Augen auf. Das Geräusch kommt von dort. Dort hängt, weht, ein Vorhang. Ungewohnte Farbe. Ah, ein Hotelbett. Neben mir Evas Kopf. Sie schläft. Tief. Passt. "Platsch", "platsch", "platsch".

Foto: Thomas Rottenberg

Ich krabble auf, schiebe den Vorhang zur Seite: Morgensonne, unten ein Pool, ein einsamer Schwimmer – "platsch" – "platsch" – "platsch". Ein Blick auf die Uhr: nicht einmal halb sieben. Welcher Spinner ist um diese Zeit schon im Wasser? Schwimmtraining ist doch erst ab halb acht. Warum klatscht der da unten schon aufs Wasser?

Zurück ins Bett. Noch einmal Wärme speichern. Kurz nur. Augen zu. "Platsch" – "platsch" – "platsch". Keine Chance. Na gut, stehe ich halt auf. Eva dreht sich um, murmelt irgendetwas. Ich frage: "Hä?" Sie murmelt noch einmal: "Könnt ihr nicht leise schwimmen? Normale Menschen wollen im Urlaub ausschlafen. Ihr durchgeknallten Spinner." Dann schläft sie wieder tief. Am Pool sind jetzt auch schon die anderen.

Foto: Thomas Rottenberg

Der Spinner im Wasser hat einen Namen. Daniel. "Sorry, senile Bettflucht", entschuldigt er sich, "das ist halt so, wenn man daheim kleine Kinder hat: Da bist du um fünf wach. Putzmunter. Auch wenn du jetzt eine Woche kinderfrei hast. Irgendwie blöd, oder?"

Wir lachen. Ja, sage ich, das ist nicht nur "irgendwie", sondern richtig blöd. "Angrennt", sagt der Wiener. Aber: Ich mache das hier freiwillig. Mehr noch: Ich bezahle sogar dafür. So wie die 20 anderen, mit denen ich gerade hier bin. Wir sind – ich und zumindest die Hälfte der Gruppe – Wiederholungstäter (Trainingscamp1 und Trainingscamp 2): Wir waren schon voriges Jahr hier, einige auch im Jahr davor.

Foto: Thomas Rottenberg

Hier, das ist Cesenatico. Eine kleine Stadt in der Emilia-Romagna, zwischen Rimini und Ravenna. Ein typischer Italo-Urlaubsort "wie damals". Hotel an Hotel an Hotel. Im Sommer, in der Hochsaison, ziemlich sicher ziemlich unpackbar. Jetzt, in der Vorsaison, ist nicht einmal jedes sechste Haus offen. Da ist Cesenatico ein Hotspot für Spinner wie Daniel. Oder eben mich. Das "Beau Soleil" ist voll. Deutsche, Schweizer, Ungarn. Österreicher, Tschechen, Polen. "Spinner" aus halb Europa.

Foto: Thomas Rottenberg

Wir alle haben die gleiche Krankheit: Rennradfahren. Einfach so. Oder aber als Teil unseres Triathlontrainings. Cesenatico, die Emilia-Romagna, ist dafür berühmt. Nicht zuletzt, weil Marco Pantani von hier kam. Pantani, "Elefantino" oder "der Pirat", war von 1994 bis 1999 das Maß aller Dinge im Radsport. Er gewann in einem Jahr Tour de France und Giro. Flog wegen Dopings 1999 auf – und starb 2004 an einer Überdosis Kokain. In Cesenatico ist er ein Volksheld, eine Legende: Doping und Drogen erwähnt man nicht. Viele glauben bis heute, dass "böse Mächte" Pantani aus dem Weg geräumt haben. (Mehr dazu gibt es am Freitag im "Radkasten" des Print-STANDARD). Auf den schmalen und steilen Bergstraßen im Hinterland ist nicht nur Pantani omnipräsent, man ist auch nie tatsächlich, kaum je allein: Der nächste Rennradpulk ist höchstens fünf Minuten weit weg.

Foto: Thomas Rottenberg

Menschen in meiner Bubble muss man Cesenatico nicht wirklich erklären: Cesenatico ist ein Code. "Cesenatico?", fragt etwa Christian Ermert am Telefon und seufzt. Es klingt beinahe neidig: Ermert ist Herausgeber von "Läuft", einem der großen deutschen Laufmagazine. Er sitzt gerade daheim am Schreibtisch. Wofür Cesenatico steht, weiß jemand wie er, auch ohne dass ich ihm irgendetwas erklären oder einen Tipp geben müsste: "Oh, du bist also auf Trainingslager. Wusste gar nicht, dass du Triathlon machst. Mann, ich wäre auch gern mal wieder hier. Die Gegend kann echt was."

Foto: Thomas Rottenberg

Ermert lag natürlich richtig. Ich war hier auf Trainingslager. Gab mir eine Woche (für meine Verhältnisse) die Kante: vor dem Frühstück eine Stunde schwimmen. Dann essen, so viel nur irgendwie geht, denn nach dem Frühstück kommen vier oder fünf Stunden am Rad (Video). Dann laufen, im Pinienwald oder am Strand, gefolgt von Stabi- oder Yoga-Nahtodmomenten. Am Abend essen für vier. Um spätestens 22 Uhr wie tot ins Bett. Und am nächsten Tag das Ganze, leicht variiert, noch einmal. Eine Woche lang. Nicht nur freiwillig, sondern sogar gerne. Erklären kann man das nicht. Muss man auch nicht: Entweder man fühlt es – oder eben nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich jammern wir. Das gehört dazu. Fluchen auch. #hateyourcoachweek lautet einer der Hashtags dieser Woche. Sagt man Harald Fritz, dass es genug ist, dass man fertig oder leer ist, fühlt er kurz den Puls. Seinen eigenen: "Hm, irgendwie regt mich das gerade nicht sehr auf." Dann reicht er einem den Zettel mit dem Schwimm- oder Sonstwasprogramm: "Ist eh eher locker: Alles mit Paddles." Wenn Schultern weinen könnten, wäre der Pool von Cesenatico salziger als das Meer. Aber es nicht zu versuchen ist halt auch keine Option. Für niemanden. Das weiß der Coach. Wir wissen, dass er es weiß. Also schwimmen wir. Oder radeln. Und obwohl wir sicher sind, dass es nicht geht, nicht gehen kann, geht es eben doch.

Foto: Thomas Rottenberg

Vergangene Woche ging es an dieser Stelle auf den ersten Blick ziemlich genau um das Gegenteil von einem Stunt wie diesem hier. Es ging um die Freude. Um den Spaß an der Sache. Darum, sich weder selbst noch von außen Druck zu machen, sondern Dinge einzig und allein deshalb zu tun, weil man sie gerne macht. Um zu genießen.

Ob Cesenatico – oder jedes andere Trainingscamp, egal ob auf Fuerteventura, Mallorca, in Kroatien oder Dubai – nicht exakt das Gegenteil von dem sei, was ich letzte Woche in dieser Kolumne postuliert hätte, fragte ein Leser, als ich Bilder und Videos von unserer Fahrt auf den Barbotto, einen der Pantani-Hausberge, online stellte: 18 Prozent Steigung. Nicht nur einmal. Mit satter Vorbelastung in Kopf und Gliedern. "Du predigst Wasser – und trinkst Wein. Oder nimmst Epo."

Foto: Thomas Rottenberg

Bei Epo und Co fehlt mir der Humor. Abgesehen davon verstehe ich den Fragesteller. Auf den ersten Blick hat diese Schinderei ja wirklich wenig mit dem Primat von Lust und Leichtigkeit zu tun.

Aber auf den zweiten dann doch. Weil man ja auch daheim ein Koppeltraining (also etwa einen subjektiv zügigen 10-Kilometer-Lauf nach drei subjektiv intensiven Stunden am Rad) nicht aus dem Stand runterspult: Darauf arbeitet man hin. Kontinuierlich und mit System. Und hoffentlich mit qualifizierter Betreuung und Feedback. Aber vor allem: Mit einem Plan und einem Ziel. Training ist immer Teil eines Weges. Eines Weges hinaus aus der eigenen Komfortzone. An Orte, die auch nur sehen zu wollen, sich kaum jemand beim Abschied von der eigenen Couch-Potato-Existenz vorstellen hätte können. Entweder weil man gar nicht wusste, dass es sie gibt, oder weil man dachte, dass so ein Ziel "für jemanden wie mich" unmöglich sei.

Foto: Thomas Rottenberg

Ob dieses "Unmöglich für mich" dann Triathlon (ganz egal, welche Distanz), Jonglieren oder Seiltanzen ist, ist egal. Genau genommen gilt das auch beim ersten Laufschritt, dem ersten Wurf einer Bocciakugel oder dem Backen eines Laibes Brot: Wer will, findet Wege. Wer nicht will, hat Ausreden. Wobei natürlich immer etwas dazwischenkommen kann. Wobei man ab einer gewissen Intensität, Ferne oder Komplexität des Ziels nicht ohne Begleitung, Betreuung und Beratung lospreschen sollte. Weil – noch ein "Wobei" – es wichtig ist, mitunter gebremst und zurechtgestutzt zu werden. Hin und wieder hilft aber auch ein ermunternd-wohldosierter Tritt in den Allerwertesten. Und der Satz "Ich will den Schas ja nicht gewinnen" – wobei dem sofort ein Versprechen folgen sollte: "Aber ich werde ankommen."

Foto: Eva Lillan

Wo ich heuer ankommen will? Keine Ahnung. Bei meinen Teamkollegen aus Cesenatico stehen längst präzise definierte Ziele und Wettkämpfe auf der sogenannten Bucketlist. Bei den meisten sind es Triathlon-Halb- oder Langdistanzen (also 1,9/90/21 respektive 3,8/180/42 Kilometer schwimmen, Rad fahren und laufen). Und im Herbst schöne Läufe. Bei manchen sind es auch "nur" Sprint- oder olympische Tri-Bewerbe, wobei "nur" da nur die niedrigeren Zahlen beschreibt, aber keinesfalls Leistung, sportlichen Wert oder Leidenschaft wertet. Ich selbst bin für ein paar Events angemeldet, weiß aber gerade nicht, ob ich mich Zahlenspielen aussetzen will: Zu spüren, dass ich kann, genügt mir momentan. Alles andere wird sich ergeben. Oder eben nicht: Cesenatico war Teil des Weges. Und wurde – unversehens – zum größten Ziel.

Foto: Thomas Rottenberg

Denn irgendwann begreift man, dass Erfolge und Triumphe nicht immer an eine Ziellinie gekoppelt sind: Ich hatte genau hier, in Cesenatico, im Vorjahr beim Freiwasserschwimmen eine mega Panikattacke aufgerissen. Sie war aus dem Nichts gekommen. War plötzlich da. 300 oder 400 Meter vom Strand entfernt konnte ich mir dabei zusehen, wie ich schlagartig weder atmen noch mich bewegen konnte. Ohne die Gruppe hätte ich es nicht mehr ans Ufer geschafft. Am Strand waren dann alle um mich bemüht: "Atme tief durch." "Lass dir Zeit." "Erst mal raus aus dem Neo." "Setz dich hin." "Bleib sitzen!"

Foto: Thomas Rottenberg

Ich bin damals sofort wieder ins Wasser gegangen. Allein, aber natürlich nicht unbeobachtet. Ich hätte mich dabei vor Angst vor meiner eigenen Angst beinahe angespieben. Ich wäre am liebsten davongerannt. Aber ich wusste: Wenn ich da jetzt nicht rausgehe, gehe ich nie wieder raus.

In den Wochen und Monaten darauf habe ich die Ironmänner von St. Pölten (halb) und Klagenfurt (lang) gefinisht. Darauf hatte ich hintrainiert. Darauf bin ich stolz.

Aber das Einzige, was wirklich zählt, war der eine Moment am Strand. Als ich mich umdrehte und wieder hinaus ins Meer lief. (Thomas Rottenberg, 8.5.2019)

Mehr Bilder und Videos vom Trainingscamp in Cesenatico gibt es auf Tom Rottenbergs Facebook-Seite.

Foto: Thomas Rottenberg