Christophe Slagmuylder lernt, dass Wien nur sehr bedingt an der schönen blauen Donau liegt.

Foto: Andreas Jakwerth

Jeder, der sich dem Ungetüm der Erste-Bank-Arena in Wien-Donaustadt auf Sichtweite nähert, muss sich die Tatsache eingestehen, kaum größer als ein Zwerg zu sein. Die Stufen, die zum Eispalast hinaufführen, hat hingegen ein transdanubischer Zyklop aufgetürmt: allein mit seiner plumpen Hände Kraft.

An einem hellen Sonntagnachmittag eilt Christoph Slagmuylder (52) die Stufen mit spürbarem Elan hinan. Fragil, aber auch aufgeräumt und optimistisch wirkt der Brüsseler Intendant, der die kommenden vier Jahre das Programm der Wiener Festwochen verantwortet. Rund um ihn herrscht lautes sonntägliches Treiben.

Tschechische Hockey-Eltern sind bemüht, ihren aus Prager Fernbussen gekippten Nachwuchs in Wettkampflaune zu versetzen. Die Eishackler in spe bersten vor Tatendrang. Verschlusskappen von Softdrinkflaschen halten für sie vor den Toren der Halle als Puck her.

Beinahe schüchtern zeigt Slagmuylder auf die beiden Hallen, die zusammen ein formschönes "L" aus Glas und Beton ergeben. In der zweiten wird sich die Hauptattraktion zur Eröffnung der Festwochen befinden: Der Argentinier Mariano Pensotti errichtet hier eine fiktive Stadt namens Diamante.

Vorplatz zum Paradies

In ihr hausen Arbeiter eines Bergbauunternehmens im Norden Argentiniens. Lauter deutsche Migranten, die im Schutz schnuckeliger Holzhäuschen ihre kleinen Melodramen erleben. Die ihr Dschungelparadies aber auch eifersüchtig vor möglichen Aggressoren abschotten.

Man geht gewiss nicht fehl in der Annahme, dass der Weg aus diesem Paradies geradewegs in die Hölle führt.

Der Vorplatz zum Paradies aber wird keineswegs von einem Engel mit flammendem Schwert bewacht. Die polnisch-kanadische Choreografin Ula Sickle wird im Rahmen von Relay ein riesengroßes schwarzes Banner entrollen. Die Fahne soll von fünf Performern reihum geschwungen werden: ein Echo auf die polnischen Massendemonstrationen zur Verteidigung von Frauenrechten; aber auch ein schwer zu decodierendes Zeichen – für welche Form von Zuversicht steht das undurchdringliche Schwarz?

Junges Grün, weiße Blöcke

Hinter dem Areal der Erste-Bank-Arena liegt urbanes Hoffnungsland. Blitzsaubere Blöcke in Weiß, die Fronten großzügig verglast: Hier, in den Donaustädter Wachstumszonen der Stadt, gedeiht der Humus für den zukünftigen Mittelstand.

Slagmuylder flaniert durch die Grünoasen, die mit jungem Grün und frischen Teichen um den Zuzug von Besserverdienern sowie den Zuspruch von Kröten und Unken werben. Er sei unermüdlich dabei, Wien auf Schusters Rappen für sich zu entdecken.

Als Spaziergänger weist Slagmuylder inzwischen beeindruckende Kenntnisse auf: Er kennt den Yppenmarkt genauso gut wie Ottakring. Er gerät noch immer kindlich ins Staunen über die Anbindung der Stadt an den schönen Wienerwald.

Im weiteren Umkreis der Erste-Bank-Arena hat Slagmuylder sogar der Vienna International School einen Höflichkeitsbesuch abgestattet. Es ist ein schöner Zufall, dass zwei Blöcke hinter der Eishalle eine "Tokio-Straße" hinaus ins Grüne führt: nicht der einzige Donaustädter Gruß an das ferne Nippon.

Man kreuzt einen weiteren Straßenzug und steht wie gottverlassen in einem Krautacker. Klarsichtfolienhäuser spiegeln den Genuss erntefrischer Fisolen vor. Slagmuylder sagt: "Mich interessieren nicht so sehr die Orte der Repräsentation, des Andenkens der alten, imperialen Macht. Sehen Sie die Wohngegenden hier? Die könnten Sie auch in Kopenhagen oder Manchester finden."

Vermeintliche Einöde

Hier, in der vermeintlichen Einöde, sollen Mitwirkende der belgischen Künstlerin Sarah Vanhee am Eröffnungsabend des 11. Mai laute, durchdringende Schreie ausstoßen (undercurrents). Auf dem Vorplatz der Hallen wird man Frauen aus Marrakesch bewundern können (Corbeaux – Krähen), Zugvögel einer aufgesprengten Welt.

Die Künstlerin und Otto-Mauer-Preisträgerin Anna Witt wiederum fühlt den Donaustädterinnen und Donaustädtern den Puls. Für Beat House Donaustadt zeichnet sie mit einem Ultraschallgerät die Herzschläge von Gemeindebaubewohnern auf. Im Wege eines Klanggewitters soll ermittelt werden, ob die Erben des "Roten Wien" noch immer miteinander im Einklang leben. Die Fenster von ein paar Wohnblöcken werden sperrangelweit offen stehen.

"Nicht-Adabeis nach Kagran"

Woran wird Christophe Slagmuylder den Erfolg oder Misserfolg seines ersten Intendantenjahres in Wien messen wollen? Der ohnehin zurückhaltende Mann gerät noch tiefer ins Nachdenken. "Ich kenne den Kontext dieser spannenden Stadt noch nicht ausreichend genug. Werden wir auch Nicht-Adabeis dazu bewegen können, hinaus nach Kagran zu kommen? Wird das Zusammenspiel der Projekte harmonieren?"

Slagmuylder zuckt die Achseln. Er ist ohnehin gekommen, um die kommenden vier Jahre zu bleiben. Zeit? Hat er.

Vor der Erste-Bank-Arena knallt ein Bub die Schaufel seines Eishockey-Schlägers hart auf den Beton. Wien steckt eben nicht nur in Kagran voller harter Pflaster. (Ronald Pohl, 8.5.2019)