Linda Alcalay und ihre beiden Brüder Jeffrey und Joel Ellenbogen sitzen auf einer Couch in einem Wiener Hotel im zweiten Bezirk. Fünf Jahre sind vergangen, seit die drei Geschwister sich das letzte Mal getroffen haben. Die Brüder leben in Vororten von Washington, D.C., Alcalay in Jerusalem. Jetzt sind sie gemeinsam nach Wien gekommen, um die Stadt kennenzulernen, in der ihr Vater Max geboren und aufgewachsen ist – und aus der er schließlich gezwungen war zu flüchten, um dem Naziterror zu entkommen.

Die drei sind auf Einladung des Jewish Welcome Service Vienna (JWS) hier und werden eine Woche bleiben. Der 1980 gegründete JWS bemüht sich, Überlebenden der Shoah einen Besuch in Wien zu ermöglichen. Die Initiative geht auf den ehemaligen Bürgermeister Leopold Gratz sowie Stadtrat Heinz Nittel zurück und wurde gemeinsam mit Leon Zelman realisiert. Das Ziel ist, ein Wien zu zeigen, das sich seiner Vergangenheit stellt und ehemals Vertriebene einlädt, es zu besuchen oder – im Falle von Nachkommen – oft erstmals kennenzulernen.

Jeffrey Ellenbogen, Linda Alcalay und Joel Ellenbogen besuchen Wien und begeben sich auf familiäre Spurensuche.
Foto: vanessa gaigg

Die Nachbarschaft erkunden

Jedes Jahr kommen etwa zwei bis drei Gruppen mit jeweils ein paar Dutzend Personen. Mittlerweile werden verstärkt auch Nachkommen von Überlebenden eingeladen. Alcalay und ihre Brüder gehören der sogenannten zweiten Generation der Shoah-Überlebenden an, so wie auch die anderen der 35-köpfigen Gruppe.

Nur wenige Meter vom Hotel entfernt wohnte einst auch ihr Vater, nachdem die Familie vom zehnten in den zweiten Bezirk gezogen war. Seine Mutter betrieb in dem Haus, in dem sie wohnten, ein Geschäft. 1938, er war 20 Jahre alt, musste er flüchten. Als ein früherer Freund, der im selben Haus wohnte, eines Tages mit Nazibinde am Arm zu ihm kam, habe er gewusst, dass es seine letzte Chance war zu entkommen, erzählt Alcalay. In den USA konnte er sich dann ein neues Leben aufbauen.

Auf dem Weg zum Fest der Freude am Wiener Heldenplatz.
Foto: vanessa gaigg

"Emotionale Achterbahnfahrt"

Sein Vater war bereits gestorben. Seine Mutter ließ er schweren Herzens zurück – eine Tatsache, die ihn bis zu seinem Tod beschäftigt hat, wie seine Kinder erzählen. Sie wurde schließlich nach Riga deportiert. Unter welchen Umständen sie genau zu Tode gekommen ist, wissen sie nicht.

"Unser Vater hat über das Erlebte nicht gesprochen", sagt Joel Ellenbogen. Erst spät, als Alcalay sich dazu entschied, die Geschichte ihres Vaters zu dokumentieren, habe er sich ein wenig geöffnet. Im hohen Alter habe er immer wieder gerufen "Mama, Mama. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht retten konnte". Nach Wien ist er nur einmal und nur für zwei Tage zurückgekehrt.

Das gemeinsame Fest der Freude

"Wir verneigen uns vor den Befreiern Österreichs und vor allen Opfern, die von den Nazis verfolgt, gequält und ermordet wurden", sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen, als er das Fest der Freude am Heldenplatz vor etwa 10.000 Besuchern eröffnete. Er sprach auch zu den drei Geschwistern, die gekommen sind, um an dem Fest, das den 8. Mai als Tag der Befreiung feiert, teilzunehmen.

"Wenn die grundsätzliche Gemeinschaft aller Menschen geleugnet wird, öffnet sich die Tür ins Verderben", sagt Van der Bellen. Auch heute erlebe man eine Wiedergeburt der Trennlinien, wiewohl er überzeugt sei, dass das Gute "wieder und wieder und wieder" gewinnen werde.

"Es wurde in der Geschichte der Menschheit bereits mehr als genug Blut vergossen. Nie wieder!", sagte Shaul Spielmann, der sechs Konzentrationslager überlebt hatte, bei seiner Rede am Wiener Heldenplatz.
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Sie hören auch die Worte Shaul Spielmanns, eines gebürtigen Wieners und Überlebenden von sechs Konzentrationslagern. "Sieben Jahre war ich alt, als mir ein Wiener Nazi-Offizier einen Revolver an den Kopf hielt", sagt Spielmann. Er wünsche sich, dass die ganze Welt "Shalom" zu allen Nationen sage.

Emotionale Achterbahnfahrt

"Hier zu sein ist eine emotionale Achterbahnfahrt für mich", sagt Jeffrey Ellenbogen. "Die Stadt ist wunderschön", sagt er. "Aber wenn ich auf der Straße Deutsch höre, bekomme ich Gänsehaut. Auch wenn ich weiß, dass ich eigentlich in Sicherheit bin." Seinem Bruder geht es ähnlich. Trotzdem fühlen sich alle drei mit Wien verbunden, sehen hier ihre Wurzeln.

"Wenn ich hier durch die Straßen spaziere, stelle ich mir vor, wie mein Vater hier mit seinem Fahrrad gefahren ist", sagt Joel Ellenbogen. Viel habe er nicht mit ihnen geteilt, was seine Kindheit und seinen Bezug zu Wien anging, auch nicht die deutsche Sprache. Gesellig sei er als Mensch jedenfalls gewesen, sagt Ellenbogen. Aber auch stur, ein Dickschädl. Ob das was typisch Österreichisches sei?

Wie bei jeder Gruppe, die der Jewish Welcome Service einlädt, stehen auch noch ein Heuriger in Grinzing und ein Besuch des Jüdischen Friedhofs in Währing auf dem Programm. Linda Alcalay und ihre Brüder freuen sich, auch noch den Prater zu besuchen – eines der wenigen Dinge, von denen der Vater über seine Vergangenheit in Wien erzählte. (Vanessa Gaigg, 9.5.2019)