Mit einem Prisma aus Plexiglas können Pergamentstreifen, die als in der Buchmitte Falzverstärkungen dienten, fotografiert werden, um sie anschließend wieder zusammenzusetzen (siehe nächstes Bild).

Foto: ÖNB

Nein, kein Banksy-Shredding, sondern die virtuelle Konstruktion eines Blattes aus mehreren Falzverstärkungen (siehe Bild oben).

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Überraschender Fund in Bänden der ehemaligen Stiftsbibliothek Mondsee: Eines der größeren Pergamentfragmente zeigt die Kapitelliste und das Vorwort einer sehr seltenen Handschrift der Paulus-Briefe, die etwa um 800 entstanden ist.

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Die hier zusammengesetzte Initiale zeigt Eva, die einen Apfel vom Mund der Schlange bekommt; der Körper der Schlange ist um den Baum umgewickelt. Die ursprüngliche Handschrift war ein Antiphonar, ein liturgisches Buch mit Gesängen für das Stundengebet.

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Mitte des 15. Jahrhunderts steht das Benediktinerkloster Mondsee in voller Blüte: Nach einem Auf und Ab seit seiner Gründung im Jahr 748 erfreut sich die Abtei großer Beliebtheit. Rund 50 Mönche haben sich hier niedergelassen, viele davon sind von Wien an den beschaulichen Mondsee gewechselt. Grund genug, die jahrhundertealte Bibliothek zu überholen. Im Zuge eines Neubaus beschließt man, vielen der bedeutenden Handschriften neue Einbände zu verpassen. Damit einher geht so etwas wie eine Bestandsbereinigung. Nicht mehr benötigte Handschriften werden kurzerhand zerschnitten und dafür verwendet, alte Einbände zu verstärken und neu geschriebene Bücher zu binden. Eine kostengünstige Form des Recyclings.

So oder so ähnlich dürfte es sich zugetragen haben, wie sich Forscherinnen der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) zusammenreimten, die der mittelalterlichen Wiederverwertung im einstigen Kloster Mondsee auf den Grund gehen. Im Mittelalter war das Stift, das 1791 im Zuge der josephinischen Kirchenreform aufgelöst wurde, eines der wichtigsten Zentren der Buchproduktion in Österreich. Katharina Kaska von der ÖNB-Sammlung von Handschriften und alten Drucken und Projektmitarbeiterin Ivana Dobcheva digitalisieren die Fragmente der zerstörten Handschriften, die in den Einbänden von Büchern der Stiftsbibliothek gefunden wurden, und fügen die Puzzleteile am Computer zusammen.

1200 Jahre alte Handschrift

"Bevor Papier gebräuchlich wurde, mussten die Häute vieler Tiere aufwendig bearbeitet werden, um Pergament für Handschriften herzustellen", sagt Kaska. "Folglich war Pergament sehr wertvoll und wurde häufig in Einbänden recycelt." Mit dem Nebeneffekt, dass so manches Kulturdenkmal verborgen in klösterlichen Bibliotheken überlebte.

In Mondsee waren das etwa Teile einer der ersten Übersetzungen der Bibel ins (Althoch-)Deutsche, die bereits im 19. Jahrhundert entdeckt wurden. Oder die Fragmente einer ganz speziellen Handschrift der Paulus-Briefe, die zu Beginn des neunten Jahrhunderts unter Karl dem Großen entstanden sein dürfte. "Es gibt nur eine weitere Übertragung dieser Version", sagt Kaska, während sie eine Box öffnet, in der kleinere wie größere Abschnitte der Handschrift feinsäuberlich sortiert sind. Das fast durchscheinende Pergament wirkt überraschend frisch, die geschwungenen Buchstaben sind kaum verblichen, ebenso wenig wie die Farben der kunstvoll gestalteten, mit Fischen versehenen Initialen des 1200 Jahre alten Dokuments (siehe Bild links.)

Schwierige Rekonstruktion

Insgesamt 211 Fragmente der Paulus-Briefe lagern in der Nationalbibliothek in Wien, waren bisher aber komplett durcheinander. Erst durch die Digitalisierung konnte die Handschrift virtuell rekonstruiert werden. Dabei wurden sowohl bereits aus Büchern herausgelöste Fragmente als auch solche, die sich noch in den Einbänden befinden, fotografiert und per Computer zusammengesetzt.

"Wir zerlegen heute keine Bücher mehr", sagt Kaska. Dabei bedarf es einiger Tricks, um zerstörungsfrei an die Pergamentstreifen heranzukommen. Ganze Blätter, die als Umschlag verwendet oder auf der Innenseite des Einbands angebracht wurden, um den Buchblock vor dem hölzernen Deckel zu schützen, sind noch am offensichtlichsten. Schwerer kommt man an Pergamentstreifen heran, die als Verbindungsteile zwischen den Deckeln rund um den Buchrücken gespannt wurden. Am besten versteckt sind schmale "Falzstreifen", welche die mit Fäden zusammengehefteten Seiten in der Buchmitte verstärken sollten. Um sie sicht- und fotografierbar zu machen, benützen die Forscherinnen ein dreieckiges Plexiglasprisma, das zwischen die Falzstreifen gelegt wird (siehe Bilder links).

Digitales Puzzle

Dann beginnt die langwierige Arbeit des Zusammensetzens der digitalisierten Streifen: "Wir versuchen erst einmal herauszufinden, welcher Buchstabe zu welchem passt", sagt Ivana Dobcheva. Schritt für Schritt wird dann die Handschrift rekonstruiert und der Inhalt identifiziert. Auf der internationalen, frei zugänglichen Onlineplattform Fragmentarium können die Handschriften digital wiederauferstehen und für weitere Forschungen verwendet werden.

"Hauptsächlich handelt es sich um liturgische Texte, Gesänge, Messen und Stundengebete. Anhand der Zeit, zu der sie recycelt wurden, kann auf Veränderungen in der Liturgie geschlossen werden", sagt Kaska. "Andere Handschriften waren schlicht abgenutzt oder konnten im Fall der alten, karolingischen Schriften nicht mehr gut gelesen werden."

Altpapier im Mönchsalltag

Neben religiösen Büchern wurden aber auch alltägliche Dokumente zu Altpapier erklärt und wiederverwertet: etwa eine Art Dienstplan mit Namenslisten von Mönchen und ihrem Einsatz bei den österlichen Gesängen. Dazu geben Briefe, Notizzettel, Todesnachrichten, Urkunden und Aufzeichnungen etwa über Löhne für Arbeiter und den Handel mit Bauern Auskunft über die Verwaltung und den Alltag im Stift Mondsee. Nebenbei gibt das klösterliche Recycling auch Einblicke in die dortige Buchbinderwerkstätte – anhand der verwendeten Fragmente lässt sich beispielsweise abschätzen, welche Einbände im selben Zeitraum entstanden sind.

Seit zwei Jahren arbeiten die ÖNB-Forscherinnen unter der Leitung von Andreas Fingernagel an dem "Modellfall Fragmentendigitalisierung", 175 Dokumente wurden schon online gestellt. Bis zum Sommer soll das durch die Akademie der Wissenschaften finanzierte Projekt abgeschlossen werden.

Glücksfall Mondsee

Dass ein Großteil der Mondseer Stiftsbibliothek überhaupt erhalten sei, sei ein Glücksfall, betont Kaska: Die rund 750 Bände umfassende Handschriftensammlung erschien der Hofbibliothek in Wien so interessant, dass sie sie direkt nach der Auflösung des Klosters im 18. Jahrhundert übernahm. Ein anderer Teil der Bibliothek wanderte in das Oberösterreichische Landesarchiv und die Landesbibliothek. Die Bestände anderer Abteien wurden hingegen oft verkauft oder gingen anderweitig verloren.

Bisher fristete die Bibliothek von Mondsee samt ihren verborgenen Fragmenten ein kaum erforschtes Dasein – was sich nun mit dem digitalen Textpuzzle ändert. (Karin Krichmayr, 12.5.2019)