"Aus der Klasse raus. Raus!", schreit der Lehrer. Einen Moment später bespuckt er seinen Schüler, der stößt ihn mit voller Wucht gegen die Tafel. Schüler filmen und verbreiten die gegenseitige Demütigung mit dem Smartphone. Auf einer anderen Aufnahme sitzt der Lehrer anscheinend teilnahmslos auf einem Stuhl, ein langes Lineal in der Hand. Ein Schüler bläst nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt in eine Trillerpfeife. Die Videos verbreiten sich rasant durch ganz Österreich.

Innerhalb weniger Tage wird das Thema Mobbing in der Schule von der Regierung abwärts diskutiert, von manchen instrumentalisiert. Die FPÖ fordert Bootcamps für auffällige Schüler, die Neos Mobbing-Meldestellen, die SPÖ zusätzliche Schulpsychologen. Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) präsentierte erst am Freitag einen Neun-Punkte-Plan, der noch heuer an Pilotschulen umgesetzt werden soll. Der umstrittene Inhalt: Time-out-Klassen und Cool-down-Räume für störende Kinder.

Vereine, Gewerkschaften, selbst die Zivilgesellschaft nutzen die Aufregung, um Themen zu setzen und Forderungen zu stellen. So ruft etwa der Verein Neustart nach mehr Schulsozialarbeit, währenddessen unterzeichnen hunderte Bürger eine Petition, die mehr Unterstützungspersonal an den Schulen fordert. Es gibt kaum jemanden, der in der aktuellen Debatte nicht zu Wort kam.

Was aber ist mit denen, über die debattiert wird? Mit denen, die Mobbing, das sich über verschiedene Ebene der Hierarche abspielt, selbst erlebt haben – als Täter oder als Opfer?

DER STANDARD hat sie um Gespräche gebeten. Und ist dabei oft auf Schweigen gestoßen. Kaum jemand spricht gern über Mobbingerfahrungen, Tätern und Opfern steht die eigene Scham im Weg: dafür, was ihnen angetan wurde, und dafür, was sie anderen angetan haben. Andere wollen das Tabu brechen und erzählen von Wut und Angst oder davon, wie sie Mobbing entkommen sind.

Die Erfahrungsberichte zeigen vor allem: Was in der HTL Ottakring passiert ist, ist kein Ein zelfall. Fälle von Mobbing kommen häufig vor. Und nicht jeder Fall ist gleich. Das, was Täter und Opfer als Mobbing wahrnehmen, hat viele Formen, kann von Ignoranz bis hin zu Gewalt gehen. Auf der anderen Seite realisieren manche Täter erst nach Jahren, dass ihr Verhalten verletzend war.

Vier Protokolle sollen an dieser Stelle exemplarisch und anonym wiedergegeben werden, aktive und ehemalige Lehrer und Schüler erzählen ihre Erlebnisse, um die Schweigespirale aus Gewalt und Beschämung zu durchbrechen.

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Foto: Standard

FALL 1: Arbeitsloser Lehrer


"Damit er nicht wegläuft, habe ich ihm die Schuhe weggenommen. ‚Die kosten mehr, als du verdienst‘, sagte er dann."

Ich habe schon viele Erfahrungen mit Mobbing gemacht, in alle Richtungen. Die erste Schule wechselte ich, weil ich von der Direktorin gemobbt wurde, die zweite wegen einer Kollegin, deswegen habe ich auch mit einer Bildungskarenz ein Jahr Auszeit gemacht. Danach war ich ein Jahr in einem Polytechnikum im Wiener Vorland, das war furchtbar.

Das Poly ist halt ein Auffangbecken, im Grunde noch extremer als die HTL, von der man jetzt so viel hört. Die Schüler sind dort zwar noch ein bisschen jünger, aber es ist Pflichtschule, also kannst du sie auch nicht raushauen, das schaffst du in der HTL noch irgendwie. Aber wenn du im Poly so ein 14-jähriges Gfrast hast, das alle beleidigt, alle schimpft oder sich einkifft im Unterricht – auch das hatten wir –, dann kannst du es höchstens suspendieren. Und das ist für den Schüler dann nur Urlaub.

Ich weiß, ich hätte ihm die Schuhe nicht wegnehmen dürfen.

Mit einem kam ich wirklich gar nicht zurecht. Von dem kamen Sprüche wie: "Ein Anruf, und du bist deinen Job los." Einmal musste er länger in der Schule bleiben, um das nachzuholen, was er in der Stunde nicht mitbekommen hatte. Weil er schon oft abgehaut war – er sagte, er geht aufs WC, und kam nicht wieder –, habe ich ihm die Straßenschuhe weggenommen und sie ins Lehrerzimmer gestellt. Da hat er zu mir gesagt: "Meine Schuhe kosten mehr, als du im Monat verdienst."

Ich weiß, ich hätte ihm die Schuhe nicht wegnehmen dürfen, aber als Lehrer hast du einfach keine Handhabe gegen solche Gfraster, das ist ein Systemproblem. Als Lehrer bist du der Depp der Nation. Man weiß nicht, wie man reagieren soll, man ist verloren. Am Ende reagiert man mit einer Mischung aus Ironie und Lautstärke.

Ich wollte eigentlich nie ins Poly. Aber wenn die Zuteilung deinen Wünschen nicht nachkommt, wirst du überrascht. In dem einen Jahr, in dem ich da war, war ich vermehrt im Krankenstand. Kurz nach Ostern letzten Jahres habe ich das Handtuch geworfen, als eine Schülerin mich anzeigen wollte, weil ich ihr Handy gegen die Wand geworfen haben soll. Sie verwickelte sich schlussendlich in Widersprüche, aber ich wollte dann nicht mehr dort unterrichten.

Ich glaube aber, hinter all dem steht oft Frust: Wenn die Schüler immer schlechte Noten bekommen, dann verweigern sie komplett. Ich hatte Mädchen in der Klasse, die brachten irgendwann nichts mehr zur Schule mit als ein Glätteisen für ihre Haare.

Nun habe ich mich im Burgenland für eine Stelle beworben, ich bin auch bereit hinzuziehen. Wien ist für mich als Lehrer mittlerweile entbehrlich.

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Foto: APA / Roland Schlager

FALL 2: Ehemalige Schülerin, Mobbingopfer


"An dem, wie lang das Minus neben der Deutschschularbeitsnote war, konntest du sehen, wie sehr sie dich mag."

Bei uns im Gymnasium saßen die Lehrer am längeren Hebel. In der Unterstufe bekamen wir eine neue Deutschlehrerin, die gab nur denen, die sie mochte, gute Noten. Die bekamen dann schlechtestenfalls einen Dreier – egal, wie schlecht der Text war. Die, die sie nicht mochte, bekamen ein Nicht genügend Minus. Und an der Länge des Minus konntest du herauslesen, wie wenig sie dich mochte – irgendwann haben wir begonnen, sie abzumessen. Manche waren fünf Zentimeter lang, andere gingen quer über eine halbe Seite. Doch Feedback dazu, was wir falsch machten, bekamen wir nicht.

Sie sagte uns, wir seien dumm.

Sie sagte uns, wir seien dumm, dass wir nichts könnten, es zu nichts bringen würden. Und dass wir auf einem Gymnasium nichts verloren hätten und besser auf die Hauptschule gehen sollten.

Ich hatte bis dahin einen Einserschnitt. Als ich auf einmal einen Fünfer bekommen hatte, hat mich das vollkommen aus der Bahn geworfen, ich war tief verunsichert, das hat sich dann auch auf meine anderen Schulfächer ausgewirkt.

Und zu Hause saß ich weinend da und habe mich verteidigt. Meine Mutter dachte, ich hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt, glaubte, ich hätte nicht genug gelernt. Sie dachte, es wäre nur eine Ausrede, als ich ihr von der Willkür der Lehrerin erzählte.

Meine Eltern haben mir erst geglaubt, als die Mutter eines Schulkollegen sie anrief. Die war selbst Deutschlehrerin und wusste, dass die Schularbeit ihres Sohnes kein Fünfer sein konnte, also begann sie, andere Eltern anzurufen und sich zu erkundigen, was bei ihren Kindern los sei. Es hat ein ganzes Semester gedauert, bis unsere Eltern uns geglaubt haben.

Das Problem hat sich dann von selbst gelöst: Die Lehrerin ist schwanger geworden. Ansonsten sind keine Schritte gegen sie eingeleitet worden. Wir bekamen im nächsten Jahr eine neue Deutschlehrerin. Wir hatten zu dem Zeitpunkt kein Selbstvertrauen mehr, schrieben mittlerweile wirklich schlechte Texte, aber die neue Lehrerin hat das bemerkt und uns dann auch gezielt gefördert.

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Foto: APA / Roland Schlager

FALL 3: Ehemalige Schülerin, Mobberin


"Sie war einfach eine Opfernatur, nicht mehr die Jüngste und unbeholfen im Umgang mit uns Schülern."

Das war noch in der Hauptschule, als wir unsere Lehrerin gemobbt haben. Zumindest verstehe ich das nun so, aus heutiger Sicht. Aber damals haben wir das nicht so gesehen, wir waren blöde Kinder. Ich bin ’84 geboren, das Wort Mobbing gab es damals noch gar nicht. "Was dich nicht umbringt, macht dich stärker", hieß es damals, und: "Da muss man durch, davon hat man später im Leben was." Aber Kinder sind nun einmal bösartig. Auch wenn nicht immer eine bösartige Absicht dahintersteckt.

Unsere Biologielehrerin war eine sehr steife Person. Sie hat teilweise recht hilflos gewirkt und ist nach dem klassischen Muster vorgegangen: Wir mussten immer das blaue Kästchen aus dem Buch abschreiben. Und erst haben wir uns nur lustig gemacht, weil sie immer das Kästchen in der Luft nachgezeichnet hat.

Sie war ein leichtes Opfer, wir wollten sie nur ein wenig ärgern.

Sie war ein leichtes Opfer, wir wollten sie nur ein wenig ärgern. Also gingen wir weiter und kamen irgendwann auf die Idee, bei einem Tampon den Faden abzuschneiden und gegen die Kreide auszutauschen. Das hat gut funktioniert, also sind wir noch weitergegangen und haben den Tampon rot angemalt und nass gemacht. Dann haben wir ihn so über der Klassentüre aufgehängt, dass sie hineinlaufen musste, wenn sie bei der Tür reinkam.

Ich glaube nicht, dass das sehr angenehm für sie war. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte, war sauer, fassungslos. Aber sie hat nicht geweint. Ich denke, dann hätte ich gemerkt, dass wir da etwas falsch gemacht haben, dann hätte mir das irrsinnig leidgetan. Aber auch zu Hause war die Reaktion nur ein Kopfschütteln und ein: "Das könnts aber nicht machen." Wir haben später vom Klassenvorstand ziemlich Anschiss bekommen, aber wirkliche Konsequenzen gab es nicht.

Bei einer jungen Geschichtslehrerin haben wir versucht, sie zu ärgern, aber das haben wir ziemlich gebüßt. Sie hat uns in der Doppelstunde einfach so lange stehen lassen, bis wir vollkommen still waren. Wir haben am eigenen Körper ohne Gewalt gespürt, wie es ist, wenn man sich nicht den Regeln entsprechend benimmt. Aber die Biologielehrerin, die mit dem Tampon, war das einfachste Opfer, sie war nicht mehr die Jüngste und unbeholfen im Umgang mit uns Schülern, wusste nicht, wie sie mit uns umgehen sollte.

Ich war selbst die Außenseiterin in der Schule, ich war die Beste der ganzen Schule und habe vier Jahre lang deswegen jedes Jahr eine Medaille vom Direktor bekommen. Da konnte man sich nicht darüber freuen, wenn man dann von jedem aufs Korn genommen wurde. Und wenn dann die Leute nur bei Schularbeiten neben dir sitzen wollen und du aber bei allen coolen Sachen ausgelassen wirst, dann prägt dich das schon. Wenn man dann als Außenseiter eingeladen wird, bei etwas mitzumachen, dann machst du das auch.

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Foto: APA / Roland Schlager

FALL 4: Lehrerin, Zeugin von Schülermobbing


"Sie sagte zu dem Kind: ‚Du bist dumm‘ und ‚Geh dich waschen, du bist dreckig.‘ Oft steckt da Überforderung dahinter."

Ich bin seit 35 Jahren Lehrerin. Und dass Lehrer von Schülern gemobbt werden, habe ich noch nicht oft erlebt. Aber dass Lehrer Schüler mobben, das schon – es gibt Lehrer, die Schüler loswerden wollen, weil sie nicht mit ihnen können. Da ist unser System auch einfach blöd, ein Lehrer muss die eierlegende Wollmilchsau sein und soll mit jedem Kind zurechtkommen. Da habe ich erlebt, dass manche Kollegen eine destruktive Sprache verwenden und sich über ein Kind lustig machen. Oder Situationen aufbauschen, und dann entsteht eine Spirale: Das Kind wird in den Augen des Lehrers immer monströser, und dann endet es im Chaos. Dann wird das Kind suspendiert und hat für immer einen Stempel.

"Du bist so dreckig, geh dich waschen."

Einmal war ich bei einem Kind in der Klasse, um ihm am Nachmittag zu helfen. Und seine Lehrerin hat andauernd zu ihm gesagt: "Du bist so dreckig, geh dich waschen." Das Kind hatte dunkle Haut. Die Lehrerin sagte auch, dass das Kind dumm sei und sowieso nichts Besseres bekommen würde als einen Fünfer.

Also habe ich den IQ des Kindes testen lassen, es war völlig normal intelligent. Das musste ich der Lehrerin und den Eltern beweisen. Denn wenn ein Kind immer nur hört, dass es blöd ist, dass aus ihm nichts wird, dann wird es auch blöd.

Ich habe damals versucht, die Kollegin anzusprechen. Wir bemühen uns an der Schule, mit Supervision an solchen Situationen zu arbeiten. Die meisten sind sich dessen nicht bewusst, wenn sie so etwas machen. Oder sie sagen nachher, sie wären unter Druck gestanden. Manche geben auch der Familie die Schuld, sagen: "Aus dem wird eh nichts, der Vater war ja auch schon in der Sonderschule", solche Argumente. Das würde mir niemals über die Lippen kommen.

"Ich habe keine Lust, das ist mir zu deppert."

Oft wird der eigene Umgang nicht richtig reflektiert. Ich denke, dass so etwas auch aus Überforderung passiert und aus dem Anspruch an sich selbst. Ich habe Studenten ausgebildet und immer wieder erlebt, dass die ganz frisch kommen, mit wunderbar vorbereitetem Stoff, den sie unbedingt durchbringen wollen. Und sie wollen geliebt werden von den Kindern, die haben oft keine klare Abgrenzung: Was ist die Person, was ist die Funktion als Lehrer?

Wenn man da dann keine Hilfe bekommt, dann ist das eine Schraube, die dazu führt, dass man sich persönlich beleidigt fühlt, etwa wenn das Kind sagt: "Ich habe keine Lust, das ist mir zu deppert." Wenn ich das auf mich beziehe, dann führt das in die persönliche Beleidigtheit und in eine gefährliche Spirale. An dem muss man arbeiten, und das ist bei vielen noch nicht so angekommen.

Trotz alldem denke ich, dass Mobbing durch Lehrer weniger wird, schon allein weil der Druck durch die Eltern da ist, die sich auf die Füße stellen, wenn Kinder das daheim erzählen. (Gabriele Scherndl, 11.5.2019)