Felix Stadler, Simone Peschek und Verena Hohengasser (v. li.).

Foto: Heribert Corn

Am Anfang der Schulgschichtn stand ein Buch, an dessen Ende die Neue Mittelschule (NMS) wieder einmal sehr schlecht dastand – oder dargestellt wurde, wie Verena Hohengasser, Simone Peschek und Felix Stadler meinten: Es war die "Kulturkampf"-Diagnose der Wiener NMS-Lehrerin Susanne Wiesinger, die die zwei Junglehrerinnen und den Junglehrer veranlasste, einen Blog zu starten, in dem ein anderes, ein "realistisches und vielseitiges" Bild der NMS gezeichnet werden soll. Von Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern, Direktorinnen und Direktoren sowie allen Menschen, "die täglich an der Schule aktiv sind" und sehen, dass dort nicht alles schwarz und schlecht ist, sondern bunt und auch gut. Schulgschichtn.com bietet eine Plattform für "Erfolgsgschichtn" und "Problemgschichtn", für Geschichten aus dem Alltag und Erlebnisse mit dem System an sich.

Mehr Bildungsgerechtigkeit

Die Erfahrungen der drei Schulgschichtn-Initiatoren mit dem Schulsystem sind vielleicht andere, weil sie selbst als "andere" in die Schule gekommen sind. Nämlich nicht als Lehramtsabsolventen, sondern als Quereinsteiger über die Initiative Teach For Austria. (siehe WISSEN unten)

Verena Hohengasser (30) ist Psychologin, Simone Peschek (29) Sprach- und Religionswissenschafterin. Beide unterrichten eine zweite Klasse an der NMS Enkplatz in Wien-Simmering, einer Schule mit dem Etikett "Brennpunktschule". Gemeinsam sind sie als Klassenvorständinnen für die 2d verantwortlich. Felix Stadler (23) hat Volkswirtschaft studiert und ist auch im Tandem als Klassenvorstand im Einsatz, seine Klasse ist die 2b der NMS Schwechat-Frauenfeld.

Warum wollten die drei trotz anderer Studien in einer Schule arbeiten? "Ausgerechnet" in einer NMS? In einem der Blogbeiträge heißt es, eine der häufigsten Fragen, die man als NMS-Lehrerin gestellt bekomme, sei: "Und das tust du dir wirklich an?" Was "antun"? Die Kinder dort? Solche Fragen finden alle drei "kränkend" – für die Kinder, mit denen sie arbeiten. "Die kriegen das schlechte Reden über die NMS, das Schlechtreden der NMS natürlich mit, dass sie vermeintlich weniger wert sind, weil sie nicht ins Gymnasium gehen", sagt Peschek. Im Gegensatz zu den drei Lehrern, die selbst alle in einer AHS waren, wie Stadler anmerkt. Peschek hat "gemischte Schulerfahrungen, von sehr gut bis schlecht. Aber es waren die guten Lehrer, die mich geprägt haben. Das möchte ich weitergeben."

Fordernd, anstrengend und nie fad

Ihr idealistischer Antrieb, als Lehrerin und Lehrer mit oft multipel benachteiligten Kindern zu arbeiten, lautet bei allen dreien "Bildungsgerechtigkeit": "Ich würde immer wieder an eine NMS gehen, weil die Energie, die wir da reinstecken, wirklich Sinn ergibt", sagt Hohengasser. "Das ist teilweise sehr fordernd und anstrengend, aber es zwingt einen auch, sich gut vorzubereiten und kreativ zu sein. Es wird nicht fad. Es darf nicht fad werden, sonst hast du sie verloren", lacht sie.

Auch für Stadler, der immer schon der Meinung war, "Lehrer sein ist ein cooler Job", ist klar: "Der Unterschied, den man in einer NMS machen kann, ist größer als in einer AHS." Er meint damit, dass er und seine Kolleginnen durch ihr Engagement, ihre Arbeit mit diesen Kindern konkret etwas verändern können, das über die Schule hinaus wirkt. Dass sie für diese Kinder neue Wege aufzeigen und ermöglichen können, die ihnen sonst vielleicht verschlossen blieben. Denn: "Es gibt vieles, was unseren Kindern fehlt, weil die Eltern vielleicht nicht können oder aber, weil es im System nicht vorgesehen ist", erklärt Peschek.

Sie wissen nicht, was an ihnen "gut" ist

"Unsere Kinder, denen öffentlich immer ausgerichtet wird, dass sie nichts können, haben oft kein oder viel zu wenig Vertrauen in sich selbst. Die wissen oft gar nicht, was sie können, wenn sie sich anstrengen. Sie können nicht sagen: Was ist gut an mir?", erzählt Verena Hohengasser, die vor ihrem Einstieg in die Schule an der Universität in der entwicklungspsychologischen Forschung mit Kleinkindern gearbeitet hat.

Was ist also "gut" an den Neuen Mittelschulen? "Die NMS ist viel bunter, lustiger, offener", sagt Stadler, fügt aber hinzu: "Die interne Heterogenität in der NMS ist schon enorm und daher eine große Herausforderung."

Eines der wirklich großen Probleme – und auch die wollen die drei Schulgschichtn-Macher offen aufzeigen – ist die Sprache: "Die Deutschkenntnisse sind zum Teil erschreckend gering", erzählt Peschek. "Es gibt einen Riesenanteil an Kindern, die viel besser Deutsch können sollten, weil sie das ganze System durchlaufen haben, Kindergarten, Volksschule", beschreibt Stadler, womit er "am meisten zu kämpfen hat" im Unterricht. "Bei uns sind alle Fächer auch Sprachunterricht", ergänzt Hohengasser.

Deutschlernen nach der Feuerlöscher-Methode

Was tun? "Viel mehr in frühkindliche Förderung investieren", schlägt Peschek vor. Ab Herbst schickt Teach For Austria auch zwölf Fellows in Kindergärten. Die von der Regierung geplanten Deutschförderklassen, die nur für neu eintretende Kinder gelten, sehen die drei gespalten. Hohengasser und Peschek machen die Erfahrung, "dass Kinder Deutsch vor allem von anderen Kindern lernen und aus der Motivation, Teil des Klassenverbands zu sein". Stadler lehnt zwar auch Segregation als kontraproduktiv ab, findet an den Deutschklassen aber "gut, dass es jetzt zumindest einmal eine Systematisierung des Unterrichts für die Kinder gibt, die neu herkommen. Es ist kein Feuerlöschen mehr wie bei uns mit den Kindern, die schon im Schulsystem sind."

Mehr kulturelle statt religiöser Konflikte

Die von Wiesinger betonten religiösen Konflikte haben die drei Junglehrer so nicht erlebt: "Das ist in jeder Schule anders", sagt Stadler. Kulturelle Differenzen gebe es sehr wohl, wenn es etwa lautstark heißt: "Ich bin Serbe – oder sonst was -, darum bin ich der Beste."

Auch in Simmering "haben wir Religionskonflikte wenig bis gar nicht", erzählt Peschek: "Ja, es gibt Kinder, denen Religion wichtig ist, aber viel öfter haben wir andere Konflikte: Streitereien, teilweise auch Gewalt. Mobbing. Social Media sind da ein großes Thema."

An Eskalationen wie jenen in einer HTL in Wien-Ottakring, wo ein bedrängter Lehrer einen Schüler angespuckt hat, der ihn daraufhin an die Tafel knallte, finden die drei "erschreckend, wie es so weit kommen kann, dass eine Lehrer-Schüler-Beziehung so schiefgeht". Da hätten alle Beteiligten schon früher Unterstützung holen und bekommen müssen. Darum pochen die jungen Lehrerinnen und Lehrer auch auf mehr Unterstützungspersonal in Schulen für Sozialarbeit, Deutschförderung, aber auch Administration: "Das würde viel Zeit freischaufeln für unsere Arbeit mit den Kindern."

Nicht für immer in der Klasse

Eine Arbeit, die alle drei jedoch "nicht für immer" oder durchgehend machen wollen. Weil sie sehen, wie anstrengend dieser Job sei, wenn man ihn "so intensiv und perfektionistisch" mache wie sie, sagt Hohengasser mit Verständnis für Lehrer, die nach Jahrzehnten im System ausgepowert sind. Oder keine Aufstiegsmöglichkeiten haben, nennt Peschek einen anderen demotivierenden Systemfaktor. Sie kann sich eine Rückkehr an die Schule nach einem zeitweiligen Wechsel in einen anderen Job vorstellen. Stadler wiederum, der später an einer anderen Stelle "für Bildungsgerechtigkeit arbeiten will", meint nach seinen bisherigen Erfahrungen als junger Lehrer, "dass im System relativ möglich wäre, was man selbst ändern könnte".

Gefragt nach einem Wunsch für die Schule, vor allem aber für die Kinder, nicht nur in NMS, sagt er: "mehr Professionalität". Von der Lehrerausbildung und -auswahl bis zum Selbstverständnis der Lehrerkollegien: "Wie kriegen wir die besten Leute in den Beruf? Welches Mindset haben sie? Welche Ziele haben wir als Schule? Das ist wichtig, um eine neue Schule zu etablieren. Da wäre viel möglich." Auch das, was das Lehrersein für ihn ja schon jetzt ist: "Den Beruf wieder cool machen."

Ein 150 Jahre altes Schulsystem

"Hingehen und mit denen reden, die wirklich dort arbeiten", wünscht sich Hohengasser. "Fragen, was braucht ein Schulsystem, das seit 150 Jahren quasi gleich funktioniert, heute."

Nicht permanent "konzeptlos" Reform an Reform reihen und mit jedem Regierungswechsel gleich wieder Änderungen oder Neuerungen verordnen, meint Peschek mit Blick auf das "Hin und Her" bildungspolitischer Maßnahmen. Die Politik solle den Schulen auch einmal Zeit lassen, Dinge auszuprobieren. "Aber das ist wohl weniger ein Wunsch, sondern wohl mehr eine Utopie." (Lisa Nimmervoll, 13.5.2019)