Meine erste Lesung fand im Dezember 1996 statt, vor erstaunlichen dreiundzwanzig Jahren, einen Monat vor Erscheinen meines ersten Romans, auf der Weihnachtsfeier des Deuticke-Verlags. Ich las zehn Minuten, mit zitternder Stimme und nervösen Atembeschwerden; dann war es auch schon vorbei, die Leute klatschten und waren verständlicherweise erleichtert, dass sie sich nun wieder Wein und Gesprächen widmen durften. Und am erleichtertsten von allen war ich selbst. Ich setzte mich und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag und Atem wieder normalisierten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Isolde Ohlbaum / laif / picturedesk.com

Da kam einer der berühmtesten Autoren des Landes auf mich zu. Ich erkannte ihn sofort; er war untersetzt, bärtig und von einer liebenswürdigen, ganz und gar unaffektierten Volkstümlichkeit. Mit schweren Schritten näherte er sich, legte mir eine Hand auf die Schulter und fragte leise und ernst: "Schreibst du a wos Österreichisches?" Er meinte das nicht polemisch, sondern wollte mir eine Einladung bei einem der österreichischen Literatur gewidmeten Festival im Ruhrgebiet vermitteln. Aber seine Frage, die tatsächlich die allererste war, die mir gestellt wurde, als ich als Schriftsteller in Erscheinung trat, hat mich seither nie ganz losgelassen, und es liegt in der Natur der Dinge, dass ich gerade dann wieder an sie denken muss, wenn ich einen so prononciert österreichischen Preis wie diesen bekomme, einen Preis, benannt nach einem österreichischen Autor, bestimmt ausschließlich für österreichische Autoren, gestiftet von österreichischen Industriellen – einen Preis, der gewissermaßen beladen ist mit Jahrzehnten österreichischer Tradition. Steht er mir eigentlich zu? Was würde ich dem Kollegen, der leider nicht mehr lebt, aus der Distanz von fast einem Vierteljahrhundert antworten? Habe ich inzwischen – was Österreichisches geschrieben?

"... wos Österreichisches?"

In der Vermessung der Welt gibt es einen Absatz, einen einzigen nur, der in Österreich spielt, in Salzburg, wo Alexander von Humboldt ein Jahr lang das Benützen seiner Messinstrumente übt. Mein Stück Geister in Princeton spielt immerhin einen ganzen Akt lang in Wien, wo der Logiker Kurt Gödel seine spätere Frau Adele kennenlernt, heiratet und schließlich in der fälschlichen Annahme, er wäre Jude, von den Nazis aus dem Land gejagt wird. Und im Roman Tyll gibt es ein Kapitel, das in Wien seinen Anfang nimmt, bevor es sich an den bayerischen Kriegsschauplatz verlagert: Der junge Adelige Martin von Wolkenstein wird vom kaiserlichen Berater Trauttmansdorff losgeschickt, um den berühmten Gaukler Tyll Ulenspiegel aus den Kriegswirren zu retten. Martin ist nicht froh über diesen Auftrag, seine Abenteuerlust ist begrenzt, und einmal fragt er sich ausdrücklich, warum man denn überhaupt reisen soll, wo man doch auch genauso gut einfach im Zentrum schlechthin bleiben kann, nämlich in der Kaiserstadt Wien? Die Ironie der Stelle liegt darin, dass sie nicht ironisch gemeint ist: Wien wurde damals, nicht zuletzt durch den kriegsbedingten Abstieg Prags, eine Metropole von Weltgeltung, aber der Roman kehrt nicht dorthin zurück, und auch der Kaiser selbst tritt, anders als sein Gegenspieler Gustav Adolf von Schweden, nicht auf.

Thematisch eine magere Ausbeute. Wenn meine Arbeit also inhaltlich nur einen derart lockeren Österreich-Bezug pflegt, wie steht es dann mit mir selbst? Ich bin in München geboren, so steht es auf jedem meiner Klappentexte, aber ich kenne die Stadt so gut wie gar nicht und verbinde keine Heimatgefühle mit ihr. Ich bin seit dem sechsten Lebensjahr in Wien aufgewachsen, hier zur Schule und dann zur Universität gegangen. Ich besitze beide Pässe, von meiner Mutter her den deutschen, den österreichischen durch meinen Vater. Ich klinge für Deutsche manchmal österreichisch; für Österreicher allerdings, das ist mir weiß Gott oft gesagt worden, klinge ich immer deutsch. Als ich in Wien in die Volksschule kam, wurde ich regelmäßig gefragt, warum ich so seltsam spräche. Als später bei Deuticke mein erstes Buch erschien, dessen Klappentext den Münchner Geburtsort meldete, wurde ich, wie einst in der Volksschule, wieder gefragt, was mich eigentlich nach Österreich verschlagen hätte.

Erst als Die Vermessung der Welt zum Erfolg wurde, änderte sich das, und Zeitungen, die mich einen deutschen Autor nannten, bekamen mit einem Mal ärgerliche Leserbriefe aus dem Alpenland. So geht es immer hin und her. Als mein Sohn sechs Jahre alt war, wurden wir auf einem Spielplatz in der Josefstadt von einer Frau gefragt, woher aus Deutschland wir denn kämen und ob wir auf Urlaub hier seien. Ich fragte, leicht verstimmt, wie sie auf diese Idee käme, sie antwortete mit jener mir inzwischen ganz gut bekannten Mischung aus Sachlichkeit und leichtem Vorwurf: "Na wegen Ihrem Dialekt!"

"Welchem Dialekt?", fragte ich.

"Hochdeutscher Dialekt!"

Ich kenn das schon

Dabei liebe ich Wien. Ich liebe es besonders, seit ich hier nicht mehr lebe; ich bin immer glücklich, in Wien anzukommen, ich bin immer traurig, aus Wien abzureisen; jedesmal bliebe ich gern länger, aber ich tue es dann doch nicht. Zum Teil ist solche Nostalgie ein Nebenprodukt genau jener Ablösung, nach der man sich als junger Mensch sehnt. Aber es ist eben nicht nur Nostalgie, sondern auch die Klarsicht des mittleren Alters, die mir unabweisbar zeigt, wie sehr ich von diesem Land geprägt bin; man wächst nicht ohne Folgen hier auf, noch dazu als Sohn eines auf Ödön von Horváth und Joseph Roth spezialisierten Regisseurs. Ich bin natürlich geprägt von diesen beiden Schriftstellern, die immerzu unsichtbar anwesend waren in meinem Elternhaus; ich bin geprägt vom Humor Nestroys, von Schnitzlers Dialogmusik, von Musils und Doderers Sprachkraft, von Karl Kraus' grammatikalisch perfekt gefügter Wut, von der traumdunklen Poesie Georg Kreislers.

Die Vermessung der Welt spielt zwar nur einen Absatz lang in Österreich, aber zur Distanz, die der Roman zu den Helden der deutschen Klassik einnimmt, zur parodistischen Haltung gegenüber Humboldts Weimarischem Pathos der Humorlosigkeit hätte ich wohl nie gefunden, wenn nicht die österreichische Kultur mich darin ausgebildet hätte. Die Vermessung der Welt handelt nicht von Österreich, aber es gäbe sie nicht ohne Österreich, sie mag ein Heimatroman zwischen Berlin, Göttingen und Venezuela sein, aber sie ist zugleich ein Buch, das nicht hätte geschrieben werden können ohne den Grundkurs in Spott und Skepsis, den die österreichische Tradition jedem angedeihen lässt, der in ihr heranwächst. Und es ist ja wahr: Wenn ich draußen in der Welt Wiener treffe, fühle ich mich sofort wie einer, der im Alltag fließend eine Fremdsprache spricht, aber nun plötzlich wieder seine Muttersprache hört – und ich bin mir der Ironie sehr bewusst, dass ich für ebendiese Wiener dann wie ein Deutscher klinge.

Ich wurde geprägt von Wiens Natur – dem damals noch mächtigen Maurer Wald, in dem ich als Kind fast täglich gespielt habe und den meine Erinnerung immerhin besser bewahrt als die zuständige Magistratsabteilung, die ihn seit einer Weile mit unvergleichlicher Brutalität wegrodet, angeblich zum Schutz der Spaziergänger, in Wahrheit wohl eher im Interesse der Holzindustrie. Geprägt sein durch österreichische Natur, das heißt vor allem, dass mir jedes Flachland eines wesentlichen Elements zu ermangeln scheint und dass sogar Meeresstrände mir nur wenig innere Ruhe spenden, während ich sofort aufatme, wenn ich irgendwo bewaldete Hügel sehe.

Ich bin aus Österreich

Ich wurde geprägt von meinen Lehrern im Kollegium Kalksburg, und das meine ich nicht negativ; Schriftstellerbiografien sind reich an Schreckensberichten aus der Schulzeit, aber ich kann dergleichen nicht bieten. Und als ich zum ersten Mal als Schriftsteller in die Welt trat, war es ein österreichischer Verlag, der es mir ermöglichte, allen voran die damals neue und inzwischen legendäre Deuticke-Chefin Martina Schmidt. Als ich anfing, Buchrezensionen zu schreiben, teils um meinen Horizont zu erweitern, teils um die Miete zu bezahlen, erschienen diese im STANDARD.

Als ich Jahre später den Schritt zur Bühne wagte, war es der Thomas-Sessler-Verlag in Wien, waren es Ulrich Schulenburg und Maria Teuchmann, die mich zu dem Wagnis ermutigten und mir dann bei dessen Durchführung beistanden; sie tun es bis heute. Mein erstes Stück wurde von Anna Badora in Graz inszeniert, und bis heute ist es Herbert Föttingers Theater in der Josefstadt, das mir als Dramatiker eine Heimat gibt und an dessen Schauspieler ich denke, wenn ich Szenen plane, die zwar nur selten in Österreich spielen, aber dann doch zuverlässig in Österreich uraufgeführt werden.

Geprägt bin ich auch durch den langen Doppelschatten Kurt Waldheims und Jörg Haiders. Karl Kraus nannte Österreich die "Versuchsstation des Weltuntergangs" – und ebendas war dieses Land auch wieder in meiner Jugend, wenngleich wir es nicht wussten. Die von Ressentiment befeuerten Erfolge von Haiders FPÖ schienen ein in Europa einmaliges Ereignis, ein Outlier, etwas, das anderswo nicht passieren würde. Und nun, da ebendieses Ressentiment sich in vielen Ländern Bahn bricht, kommt es mir vor, als hätte ich einen unverdienten Erfahrungsvorsprung vor Amerikanern, Engländern, Ungarn, Italienern und Polen, deren Sorge vor dem Zerfallen der westlichen Demokratie ich manchmal ganz automatisch mit dem wenig hilfreichen Satz beantworte: "Ich kenne das schon. Ich bin aus Österreich."

Aus Österreich kenne ich auch die bedrückenden Folgen dessen, was man heute in Amerika Tribalism nennt. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an ÖVP-Anhänger, die einander leise versicherten: "Ja, der Waldheim ist ein furchtbarer Lügner, aber wenn man ihn nicht wählt, gewinnen die Sozis!" In den USA ist man heute verblüfft darüber, wie auch gemäßigte Republikaner Trump die Treue halten, nur weil sie es nicht ertragen, dass die Demokraten gewinnen könnten. Einen, der die Waldheim-Jahre in Österreich miterlebt hat, kann dieses inzwischen weltzerstörerische Phänomen nicht weiter überraschen.

Ich wollte es anders halten

Die österreichische Nachkriegsliteratur war geprägt von politisierten Schriftstellern. Ich selbst wollte es eigentlich anders halten. Meine Vorbilder waren Beckett, Borges und Nabokov – Autoren, von denen man nie eine tagespolitische Meinung zu hören bekommen hätte. Als junger Schriftsteller wurde man in Österreich regelmäßig nach seiner Meinung gefragt, nicht weil diese irgend jemanden besonders interessiert hätte, sondern weil es nun mal das Ritual gab, Meinungen abzufragen. Ich hatte mir damals eine ausweichende Antwort zurechtgelegt: Solange die Demokratie nicht in Gefahr sei, solle man sich als Kulturschaffender lieber politisch zurückhalten sein, um das Gewicht der eigenen Stimme nicht zu mindern – denn man brauche diese Stimme ja noch, wenn einmal der Ernstfall eintrete.

Ehrlich gesagt, ich glaubte nicht daran, dass er je eintreten würde. Als mir 2009 der große Georg Kreisler in einem Gespräch auf der Bühne in Salzburg sagte, dass der Faschismus bald nach Europa zurückkehren werde, tat ich seine Befürchtungen allzu leichthin ab und erklärte sie mir mit der Trauma-Last seiner Vergangenheit. Dabei war er aufgrund dieser Vergangenheit nur klarsichtiger als wir anderen und erkannte die Zeichen, die wir nicht sehen wollten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Marko Lipus / picturedesk.com

Denn der Ernstfall ist eingetreten. Die Demokratie ist in Gefahr in der westlichen Welt. Sie ist besonders in Gefahr in Österreich. Ich habe letztes Jahr bei einem Auftritt gesagt, dass ich mich auf den Moment freue, in dem es wieder möglich sein wird, in diesem Land vor ein Publikum zu treten und von Musik und schönen Dingen zu reden, statt von unserer beunruhigenden Regierung. Dieser Moment scheint heute ferner denn je.

Politiker versichern sich und anderen gerne, die letzte Instanz sei das Wahlergebnis. Das stimmt aber nicht. Das Wahlergebnis ist die vorletzte Instanz. Die letzte Instanz ist das Urteil der Nachwelt. Wenn einem das Schreiben historischer Romane irgendetwas beibringt, dann das: Es hilft enorm, die Gegenwart so zu betrachten, als blickte man auf sie aus der Zukunft zurück.

Ich möchte sachlich fragen

Und darum möchte ich unseren schweigenden Kanzler ganz sachlich fragen, ob er sich darüber klar ist, dass künftige Geschichtsbücher ihn als den Mann bewahren werden, der es einer rechtsextremen Partei ermöglicht hat, diesem Land in seinem äußeren Bild und seinem inneren Gefüge Schaden zuzufügen, der so bald nicht mehr in Ordnung zu bringen ist.

Draußen in der Welt wird Österreich inzwischen zuverlässig neben Trumps Amerika, Orbáns Ungarn und Bolsonaros Brasilien genannt. Möchten Sie, würde ich den Kanzler gerne fragen, wirklich der Mann sein, der das bewirkt hat, möchten Sie tatsächlich von künftigen Historikern beschrieben werden als jener Regierungschef, der einen das parlamentarische System, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit offen verachtenden Innenminister ermöglicht und neben sich einen ehemaligen Neonazi als Vizekanzler geduldet hat? Sie sind jung genug, Sie werden diese Geschichtsbücher noch lesen können. Wollen Sie die Farce nicht beenden? Und dazu gleich die Frage in den Raum gestellt, nicht in irgendeinen, sondern konkret in diesen eleganten Raum der Industriellenvereinigung: Möchte die Österreichische Volkspartei wirklich weiterhin alles hinnehmen, was in ihrem Namen passiert? Möchten nicht in Wahrheit viele ihrer Entscheidungsträger endlich jene Gestalten, deren dummdreiste Vulgarität Ämter herabwürdigt, die man ihnen nie hätte anvertrauen dürfen, nach Hause schicken und dafür sorgen, dass man die Luft in diesem Land wieder atmen kann? Es liegt wirklich bei Ihnen, beim jungen Kanzler, bei der alten ÖVP. Denn die Gegenwart des machtpolitischen Kalküls ist eine kurze, aber die Zukunft, die über dieses Kalkül urteilen wird, ist sehr lang. Und sie hat per definitionem das letzte Wort. Jetzt habe ich mich tatsächlich zu einem Appell verstiegen. Dieses Land hat es wohl an sich, dass es einem beibringt, österreichischer Autor zu sein – das zu tun, was man vermeiden wollte, und zu sagen, was man nicht verschweigen darf. Und dafür, dass ich das nun auch wirklich hochoffiziell nachweisbar bin, ein österreichischer Autor, bin ich der Jury und den Stiftern des Anton-Wildgans-Preises zutiefst verpflichtet. (Daniel Kehlmann, 16.5.2019)