Nie wurde im Zuge von Europawahlen in den vergangenen Jahren so vehement ein etwaiger Beitritt der Türkei zur Union so kategorisch abgelehnt wie diesmal. So sehr, dass es fast gar nicht in den Debatten vorkommt, weil es als ausgemacht gilt, auch wenn sich aussichtsreiche Kandidaten auf den Topjob des EU-Kommissionspräsidenten wie Manfred Weber (EVP) in Wahlkampfzeiten immer wieder dafür starkmachen. Auch das EU-Parlament stimmte erst kürzlich wieder für einen Abbruch der Aufnahmegespräche mit Ankara. Dennoch könnte schon in der kommenden Legislaturperiode Türkisch in den Plenarsälen von Brüssel und Straßburg zu hören sein.

Niyazi Kızılyürek (rechts) bei einer Wahlkampfveranstaltung.

Denn Niyazi Kızılyürek, 60 Jahre alt und seines Zeichens aussichtsreicher Kandidat für einen der sechs zyprischen Parlamentssitze, hat geschworen, seine Reden in türkischer Sprache abzuhalten, sollte er den Einzug schaffen. Gedacht ist dies jedoch keineswegs als Provokation gegenüber jenen Staaten und Abgeordneten, die die Türkei aufgrund rechtsstaatlicher Verfehlungen oder kultureller Differenzen nicht als Beitrittskandidaten sehen. Viel eher ist es ein Zeichen des Friedens auf seiner seit 1974 geteilten Heimatinsel.

Viele wussten nicht von ihrem Wahlrecht

Was die wenigsten Inselbewohner im türkisch besetzten Norden bis vor kurzem wussten: rund 100.000 von ihnen sind bei der EU-Wahl wahlberechtigt. Nämlich jene Familien samt Nachkommen, die bereits vor der türkischen Invasion auf Zypern lebten, das später durch die sogenannte Grüne Linie und die UN-Pufferzone geteilt wurde. Zwar wurde 2004 nach dem Scheitern des Annan-Plans – kurz nach Zyperns Beitritt zur Union – das Unionsrecht im Norden der Insel ausgesetzt. Dennoch verfügen rund ein Drittel der Menschen neben dem Pass der international isolierten und nur von Ankara anerkannten "Türkischen Republik Nordzypern" auch über einen zyprischen Pass, der ihnen eine Stimme bei der EU-Wahl gibt.

Die Symbole der Trennung Zyperns sind immer noch zu sehen.
Foto: APA/AFP/MATTHIEU CLAVEL

Bei der letzten Wahl wurden nur rund 2.500 dieser Stimmen gezählt, diesmal sollen es mindestens 80.000 sein, die sich für die Wahl registrieren lassen haben. Kızılyürek soll mit rund 80 Prozent der Stimmen aus dem Norden rechnen dürfen – es gilt ein Vorzugsstimmensystem. 50 Wahlbüros sollen extra für die Stimmabgabe entlang der Pufferzone eingerichtet werden – rein organisatorisch dürfte es ob der zu erwartenden Wähler zu langen Warteschlangen kommen.

Mitverantwortlich für diesen Hype ist Kızılyürek. Seit Monaten tourt der im Norden geborene, für seine Wiedervereinigungsbestrebungen aber auf der ganzen Insel angesehene Neopolitiker durch die Dörfer des Südens, aber vor allem auch des Nordens. Es sei eine kleine Insel, warum also kein Frieden, fragt er immer wieder. Fast täglich passiert er für sein Unterfangen die seit 2003 für gegenseitige Besuche geöffnete Grenze.

Gescheiterte Kandidaten

Es ist nicht das erste Mal, dass ein türkischsprachiger Nordzyprer für einen EU-Parlamentssitz oder eine andere öffentliche Vertretungsbehörde kandidiert – Sener Levent, etwa. Der scharfe Kritiker Tayyip Erdoğans kritisiert in Wahlkämpfen immer wieder die "fortwährende Besatzung" durch die Türkei und muss sich zudem momentan mit einem Gerichtsprozess wegen eines selbstgezeichneten Cartoons verantworten. Dieser zeigt, wie eine griechische Figur auf Erdoğans Kopf uriniert. Ihm und den weiteren fünf Bewerbern werden kaum Chancen auf einen Parlamentssitz zugetraut.

Wenngleich sehr alt, ist die 1989er-Doku von Christopher Hitchens immer noch ein lehrreiches Stück zum Verstehen des zyprischen Grenzkonflikts.
CaNANDian

Kızılyüreks Chancen stehen da schon deutlich besser – vor allem weil er als erster Nordzyprer auch auf einer Liste der Republik Zypern kandidiert, nämlich jener der oppositionellen, zur Europäischen Linken gehörenden kommunistischen Fortschrittspartei des werktätigen Volkes (Akel). Sie stellte wie die zur Europäischen Volkspartei gehörende rechtskonservative Regierungspartei Demokratische Gesamtbewegung (Disy) bisher je zwei Mandatare. Die restlichen zwei Mandate hatten bisher zwei sozialdemokratische Parteien inne. Dabei sollten eigentlich zwei der türkischen Bevölkerung im Norden zustehen.

Mindestens ein Mandat soll sich, wenn man den Umfragen Glauben schenkt, aber zur rechtspopulistischen und ausländerfeindlichen Partei Nationale Volksfront (Elam) verschieben. Sie punktet im Wahlkampf bei einer Bevölkerung, die laut Umfragen zu 75 Prozent Einwanderung aus Drittländern als Problem sieht.

Kızılyürek wiederum profitiert von jener deutlichen Bevölkerungsmehrheit auf der Insel, die eine Wiedervereinigung anstrebt und den festgefahrenen Friedensprozess leid ist. Anders als Levent, der eine gemeinsame Republik fordert, steht Kızılyürek aber für eine bizonale und bikommunale Föderation. "Ja, ich bin türkischer Zyprer. Ja, ich bin Zyprer. Vor allem aber bin ich ein Föderalist", so Kızılyürek zum britischen "Guardian".

Jugend mit Zukunft

Kritiker werfen Kızılyürek dennoch vor, türkische Zyprer zu täuschen, schließlich hätte sich seine Partei beim Referendum von 2004 gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen. Kızılyürek aber widerspricht diesen Vorwürfen. Ihm gehe es vor allem um die Probleme der Jugendlichen und eine proeuropäische Zukunftsperspektive für den Norden. Fast 90 Prozent der Jungen studieren, rund ein Viertel fällt später in die Arbeitslosigkeit – auch weil Jobs rar sind und sich internationale Firmen vor allem im griechisch geprägten Süden ansiedeln.

Ein weiteres Erklärstück zum Zypernkonflikt.
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"Die türkischen Zyprer haben sich von der EU abgewandt. Sie ignorieren die EU, weil sie enttäuscht sind. Mit meiner Kandidatur scheint sich das ein bisschen zu ändern. Die Leute finden zurück zu ihrer europäischen Identität. Und das wollen wir nutzen," sagte Kızılyürek, der eigentlich Autor, Filmemacher und Universitätsprofessor ist, kürzlich dem Deutschlandfunk.

Türkisch im Plenarsaal?

Rund 17.000 Stimmen benötigt er Schätzungen zufolge für ein Mandat, auch weil sich die Wahlbeteiligung von rund 72 Prozent im Jahre 2004 auf zuletzt 43 Prozent verringert hat – nur rund 270.000 Menschen auf der Insel machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Die Chancen stehen also gut, dass die bislang unterrepräsentierten Bewohner Nordzyperns demnächst eine Stimme im Parlament haben und Türkisch schon bald durch die Plenarsitzungssäle dröhnt – sofern es der Parlamentspräsident erlaubt. Er oder sie entscheidet nach eigenem Gutdünken, ob es angemessen sei, eine der Nichtamtssprachen der EU im Plenarsaal zu verwenden.

Eine Einführung des Türkischen als Amtssprache, wie von Proeuropäern und Wiedervereinigungsbefürwortern Zyperns immer wieder gefordert, würde laut "Euractiv" die Zahl der Sprachkombinationen für die Dolmetsch- und Übersetzungsdienste der EU übrigens von 552 auf 600 erhöhen und die jährlichen Sprachkosten um 37 Millionen Euro steigern. (Fabian Sommavilla, 17.5.2019)