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STANDARD: Maurice Ernst, wir stehen kurz vor der Europawahl. Einer sogenannten Schicksalswahl, die von vielen Politikern nach der Devise "Wenn ihr nicht alle wählen geht, dann werden wir alle sterben" anmoderiert wird. Nun gibt es von Bilderbuch ja auch einen Kommentar zu diesem Thema: den Song "Europa 22" von der Platte "Vernissage my Heart", verbunden mit einem EU-Pass, der von der Band ausgestellt wird. Motto: "Ein Leben ohne Grenzen / Eine Freedom zu verschenken". Ist das Scherz, Satire, Ironie oder tatsächlich eine politische Haltung?

Maurice Ernst: Das ist auf jeden Fall ernst gemeint. Ich würde sagen: Wir stehen positiv zu Europa. Aber unsere Aktion ist natürlich ein bisschen euphemistisch. Denn alles, was nicht ganz konkret ist und trotzdem politisch sein möchte, trägt ja zur Glorifizierung von Sachverhalten bei. Das darf Musik, das darf Kunst. Europa ist im Übrigen ja nicht erst seit einigen Monaten ein Thema für uns, sondern mindestens schon seit der Platte Magic Life aus dem Jahr 2017. Wir wussten: Daran kommen wir nicht vorbei, daran müssen wir uns abarbeiten. Und das haben wir dann gemacht.

Maurice Ernst: "Seit ich Musiker bin, und das sind jetzt 15 Jahre, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass die Gefahr besteht, man könnte für eine öffentlich geäußerte politische Meinung vielleicht nicht zensiert, aber angegriffen werden."
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STANDARD: Wir würden jetzt nicht wagen, die Gruppe Bilderbuch politisch einzuordnen. Aber aufgrund des bisherigen Werkes vermuten wir: links von der Mitte?

Ernst: Na klar, ganz sicher. Ich bin im Prinzip ein sehr harmoniebedürftiger Mensch und kann radikalen Ideen nur wenig abgewinnen, weil das meiner grundlegenden Gefühlsgestimmtheit nicht entspricht. Was aber nicht heißt, dass man nicht auch einmal einen Meter auf eine Idee zugehen beziehungsweise aus dem Schatten treten muss, aus der Komfortzone. So kamen wir auf die Idee, einen Song Europa zu nennen und dann noch dieses 22 dranzuhängen wie ein Fragezeichen. Wo man nicht weiß: Fällt das nun in eine positive oder in eine negative Richtung? Ich finde, das ist genau die Spannung, die man als Künstler erzeugen muss. Denn ich bin ja kein Blogger, kein Journalist und schon gar kein Politiker. Deshalb darf ich mich gern ungewiss zeigen.

STANDARD: Soll die Zahl 22 ein Datum symbolisieren? Oder ist damit die Anzahl der europäischen Mitgliedstaaten zu einem früheren Zeitpunkt gemeint?

Ernst: Gar nicht. Am Anfang ist bei mir immer so ein intuitiver, ästhetischer Drang da, die Dinge auf irgendeine Weise zu benennen. Dann denke ich darüber nach: Warum kommt mir etwas in den Sinn? In diesem Fall die Zahl 22, die für mich ein Fragezeichen ersetzt hat. Oder eben ein Vorhaben. Wie ein Ablaufdatum oder wie ein Ziel. Und da beginnt es spannend zu werden. Da fängt es an, dass der, der das liest, reflektiert: Was heißt dieses 22? Ist das positiv? Negativ? Wenn die Leute darüber nachzudenken beginnen, dann war es sinnvoll.

STANDARD: Nun ist es ja so, dass die Idee Europa vor allem von rechtspopulistischer Seite stark attackiert wird. Da braut sich ein Gedankengut zusammen, das alles andere im Sinn hat als ein Leben ohne Grenzen. Es geht wieder in Richtung eines nationalstaatlichen Kleinhäuslertums, dekoriert mit rassistischen, reaktionären Sprüchen und Bildern. Fühlt man sich da als Künstler herausgefordert, aktiv zu werden?

Ernst: Wenn man sich anschaut, wie in diesem Land derzeit mit Journalisten umgegangen wird, dann kann man sich gut vorstellen, dass in Zukunft auch Popmusiker Schwierigkeiten bekommen, wenn sie sich politisch so positionieren, dass es der Regierung nicht passt. Dann ist mit einem medialen Mobbing zu rechnen, oder wie immer das dann ausschauen wird. Seit ich Musiker bin, und das sind schon 15 Jahre, habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass die Gefahr besteht, man könnte für eine öffentlich geäußerte politische Meinung vielleicht nicht zensiert, aber angegriffen werden.

STANDARD: Spielt Ihre Band in den politischen Planspielen der Gegenwart überhaupt eine nennenswerte Rolle?

Ernst: Bilderbuch ist eine Band, die so obviously nicht FPÖ ist – das weiß die FPÖ auch -, dass sie von anderen Parteien schnell einmal vereinnahmt wird. In Wahrheit will aber jeder Musiker im Idealfall eine parteilose Energie erzeugen.

STANDARD: Wie darf man sich die politische Vereinnahmung vorstellen? Sie werden eingeladen, beim Parteitag einer bestimmten Gruppierung zu spielen?

Ernst: Das gerade nicht, aber es sind schon immer wieder Songs von uns in parteipolitischen Zusammenhängen aufgetaucht. Das ist eine Grauzone, da kann man als Musiker gar nicht viel machen. Spannend wird es, wenn man so eine Europa 22-Idee hat und die gefällt den einen mehr als den anderen. Man würde sich wünschen, dass nicht nur der Bürgermeister von Wien und politisch ähnlich gepolte Leute das aufgreifen, also die SPÖ, die Neos oder die Grünen, sondern dass das in derselben Sekunde auch ein Kurz macht. Was heißt das dann? Was macht das aus dieser Musik? Was macht das aus dem Movement, aus dieser positiven Energie? Und da kann ich im Nachhinein feige sagen: Ich bin ganz froh, dass das nicht passiert ist. Oder: Ich bin ein bisschen traurig, dass es nicht ganz so dieses vereinende Momentum gehabt hat, das es auch hätte haben können auf einer politischen Ebene. Weil halt Politiker viel zu viel nachdenken oder diese Maschinerie viel zu berechnend ist, um sich einer Musik hinzugeben und einfach nur einen positiven Spirit aufzugreifen. Weil das alles immer sehr gedacht ist – und weniger gefühlt.

Maurice Ernst: "Ich sehe die größte Herausforderung darin, sich permanent zu öffnen. Man ist wie eine Blume, die sich immer wieder zusammenzieht und die man daran erinnern muss: He, du bist ja dazu da, zu blühen."
Foto: Hendrik Schneider

STANDARD: Kann man diese Europaidee auch so interpretieren, dass sich Bilderbuch als europäische Formation versteht?

Ernst: Ich finde den Gedanken immer passender. Ich habe vor allem in deutschen Zeitungen öfter gelesen, dass wir einer der besten europäischen Acts seien, das finde ich super. Weil, wie klingt denn das: Heute kommen wieder die Österreicher. Und dann der Vergleich: Ist das die bessere Band, die es in Deutschland einfach nicht gibt? Nein, es ist einfach eine supergute europäische Band. Ich bin überzeugt: Wir haben die besten Gitarren, vielleicht nicht nur von Europa; möglicherweise gehören wir zu den zehn Bands, die aktuell die besten zeitgenössischen Gitarren im Pop machen – weltweit. Deshalb wollen wir uns nicht so in eine Form hineindrängen lassen, die vielleicht Österreich ist, sondern schauen, dass es ein bissel weiter geht. Weil der Spirit, den wir vorantreiben, ja grundsätzlich nichts mit Österreich zu tun hat. Wir kommen daher, wo wir herkommen, deshalb klingen wir auch so, wie wir klingen. Deswegen verwenden wir gewisse Wörter, deshalb gibt es auch eine Satzstellung, die ein bisschen eigen ist. Aber das hat nichts damit zu tun, dass wir unsere Herkunft verherrlichen wollen, sondern dass wir künstlerisch das repräsentieren, was wir sind.

STANDARD: Können Sie das etwas genauer definieren?

Ernst: Normalerweise neigt der Mensch nicht dazu, sich selbst narzisstisch zu verherrlichen. Nach dem Motto: Ich habe so eine schöne Nase. Schau dir mei Nasn an. Ich stehe nicht in der Früh auf und sehe begeistert in den Spiegel. Ich möchte ja weiterkommen, größer denken, offener sein. Ich sehe die größte Herausforderung im Leben darin, sich permanent zu öffnen. Man ist wie eine Blume, die sich immer wieder zusammenzieht und die man daran erinnern muss: He, du bist ja dazu da, zu blühen. Das ist eine emotionale Grundgymnastik, die man immer wieder machen muss.

STANDARD: Bilderbuch haben im Lauf ihrer Karriere immer wieder auf den Resetknopf gedrückt und sich neu erfunden. Der größte Quantensprung war zwischen dem Album "Die Pest im Piemont" aus dem Jahr 2011 und "Schick Schock" vier Jahre später, der Platte, die den Megahit "Maschin" enthält. Was ist da in der Zwischenzeit passiert?

Ernst: Die Tatsache, dass Laptop und Computer plötzlich für uns wichtig geworden sind, hat uns als Gruppe verändert. Die Proberaumband wurde proberaumlos, weil es in Wien nicht so einfach ist, einen Ort zu finden, wo man auch laut sein darf. Und dann war es nach einer gefühlten Ewigkeit von sechs Jahren – so lange hat die Band damals schon existiert – so weit, dass wir etwas Neues ausprobieren wollten. Dazu kam die Entdeckung: Wow, wir können ja alles, was wir im Proberaum machen, auch mit einer gewissen Frechheit auf den Laptop bringen. Schick Schock war das Ergebnis.

STANDARD: Was bei dem damals runderneuerten Sound auffiel, waren die Gitarren. Die klingen geradezu irre – wie Dschungelgeräusche oder Schmerzensschreie. Man kann sich als Hörer gar nicht vorstellen, dass diese Töne aus dem sechssaitigen Instrument kommen, mit dem man doch bestimmte akustische Vorstellungen verbindet.

Ernst: Wir sind da sehr direkt. Mike (Krammer, Anm.) und ich machen, was die Gitarre betrifft, viel gemeinsam. Das ist ein Zweierteam, wir sitzen da und spornen uns gegenseitig an, um diesen Proberaumeffekt der Energie zu haben. Bei uns ist der Sound auch oft eine First-Take-Angelegenheit. Das kann schwierig sein, aber wenn man energetisch dahinterbleibt, kann man das so lange machen, bis man dort ist, wo man hinwollte. Dann hat man diesen einen Take, und der bleibt dann auch und wird auch bei der Plattenaufnahme nicht mehr verändert.

STANDARD: Im Zusammenhang mit Bilderbuch war, neben den ständigen Falco-Verweisen, immer auch von Hip-Hop die Rede, im Speziellen von Kanye West. Ist das wirklich so ein großer Einfluss?

Ernst: Das war schon zu einer gewissen Zeit wichtig für uns. Aber im Moment langweilt mich Hip-Hop. Seit ungefähr eineinhalb Jahren habe ich den Eindruck: Das ist ein modisches Ereignis geworden und hat nichts mehr mit Kreativität zu tun. Was mich aber immer noch daran interessiert, ist die Tatsache, dass im Hip-Hop das alte Songwritingschema Vers-Chorus-Vers, man könnte sagen: das Beatles-Prinzip, aufgebrochen wird und stattdessen alles passieren kann. Diese Unvorhersehbarkeit haben wir uns auch zu eigen gemacht.

STANDARD: Zu den Alleinstellungmerkmalen von Bilderbuch zählen auch die Texte, die ein bisschen etwas von Bewusstseinsstromlyrik haben oder von der Écriture automatique der Surrealisten. Da tauchen plötzlich Wörter wie "Rennbahn-Express" aus dem Sprachnebel auf, und man fragt sich: Wie kommt eine vergessene Jugendzeitschrift in einen Poptext der Gegenwart?

Ernst: Ich habe bei den Texten zwei Ansätze. Zum einen gibt es das Sammeln von Worten, Sätzen, Parolen. Um Sachen, die mich ansprechen, die einen ästhetischen Wert haben, die unter Umständen auch etwas mitbringen. Ich möchte jetzt nicht von "Retromoment" sprechen, aber es geht um Begriffe, die man lange nicht mehr gehört hat oder die in einem veränderten Kontext neu und frisch wirken – so wie eben Rennbahn-Express. Und dann verfolge ich noch einen anderen Ansatz: einfach das Mikrofon nehmen, seinem Innersten vertrauen und singen. Und schauen, wohin man damit kommt. Was mich selbst erstaunt hat: Man wird oft belohnt. Der Trick besteht darin, sich frei zu machen. Das mag jetzt ein wenig esoterisch klingen, aber es ist so: Je weniger man denkt, desto mehr kann man aus dem schöpfen, was man ist. Dann muss man das wieder zurechtdenken und zusammenbauen.

STANDARD: Bei den aktuellen Platten "Mea Culpa" und "Vernissage my Heart" hat man das Gefühl, dass es Dokumente des Experimentierens sind. Klangversuche zwischen Gitarrenrock und Laptopelektronik. So kommt man zu einer Fülle von Material, das interessanterweise auch veröffentlicht wurde. Es scheint, als hätten Sie nur wenig verworfen respektive weggeworfen.

Ernst: Ab einem Punkt im Arbeitsprozess zu diesen zwei Platten haben wir bemerkt: Okay, es läuft, wir machen Musik. Wir besinnen uns wieder darauf, dass wir als Band Musik machen und weniger daran denken, welches Format wir erfüllen müssten, um unserem kommerziellen Status gerecht zu werden. Schließlich kamen wir zu dem Punkt, an dem wir sagten: Wahnsinn, wir haben jetzt so und so viele Lieder, und die sind so und so unterschiedlich. Lass uns das dramaturgisch auf zwei Alben inszenieren. Wir sind Musiker und keine Instagram-Posterboys, die kommerzielle Konzepte verkaufen. Das hat uns angespornt.

STANDARD: Maurice Ernst, Sie sind mit der blondgefärbten Kurzhaarfrisur, die es nicht mehr gibt, und dem Poledance im Video zu "Bungalow" zu so etwas wie einem männlichen Sexsymbol der österreichischen Popszene geworden. Es gibt in Bilderbuch-Songs auch ziemlich derbe Zeilen: "Mein Schwanz so lang wie ein Aal / Meine Mutter so dick wie ein Wal". Welche Rolle spielen Sex und Erotik im Bilderbuch-Kosmos?

Ernst: Ich versuche, Sexualität als reine Energie zu empfinden und das nicht in männliche und weibliche Sexualität aufzusplitten. Somit habe ich ein offenes Feld. Wo ich das hinfokussiere und wo ich etwas hernehme, spielt dann keine Rolle mehr. Deshalb gibt es eine fließende Grenze zwischen sehr explizit männlichen Textzeilen wie der Aalgeschichte, die natürlich auch in einem Kontext steht, und einem Stangentanz, der in der allgemeinen Vorstellung weiblich konnotiert ist. Beides darf in unserem Universum passieren, und beides kann sich innerhalb von einer Sekunde drehen. In unserem Song Mr. Supercool heißt es: "Du hast es, ich will es, ich brauch es". Wobei es mir wirklich völlig egal ist, auf welche Seite der Geschlechterbarriere die Sexualität hier fällt – die Energie muss stimmen, die Energie hat mich gecatcht in diesem Song. Das ist der Punkt, an dem ich mittlerweile bin: Es geht nicht um Absichten und Vorstellungen, sondern um die Grundsätzlichkeit, Sexualität als Energie zu verstehen, die frei ist, frei von Ideen, und die wirklich gefühlt werden muss. (Walter Gröbchen, Thomas Miessgang, 18.5.2019)