Die Europäische Union wurde von Leuten gegründet, die die Vergangenheit fürchteten. Aber jetzt fürchten die Europäer die Zukunft. Auf diese Formel hat es der bekannte Politologe Ivan Krastev gebracht. Jahrzehntelang lautete das Hauptargument für die europäische Einigung, dass sie aus den Schrecken des Zweiten Weltkrieges entstanden und ein Garant gegen die Wiederholung der Geschichte sei. Im EU-Europa sei kein Krieg mehr denkbar (im Nicht-EU-Europa sehr wohl: exjugoslawische Sezessionskriege Anfang der Neunzigerjahre und der unerklärte russische Krieg in der Ostukraine).

Dieses Argument hat seine Wirkung verloren, weil jeder den ewigen Frieden als gegeben voraussetzte. Die Vergangenheit ist mehr oder weniger irrelevant geworden, nun wird die EU gefragt, was sie für die Zukunft tut: Arbeitsplätze, Lohnverluste, Migration. Die Antwort fällt unbefriedigend aus, und das ist wahrscheinlich der Hauptgrund für das Anwachsen der rechtspopulistischen bis rechtsextremen und EU-skeptischen bis EU-feindlichen Parteien.

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Derzeit haben die ausgesprochen rechts stehenden Parteien rund 22 Prozent der 751 Sitze im europäischen Parlament. Die Umfragen sprechen ihnen 25 bis 26 Prozent zu. Beachtlich, aber noch weit entfernt von jeder Mehrheit.
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Populismus oder Reformbewegung

Die Wahl zum europäischen Parlament entscheidet über die Zukunft Europas, darüber sind sich die meisten professionellen Beobachter einig. Die "Querdenkerplattform", bei der der frühere Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts, Karl Aiginger, eine führende Rolle spielt, skizziert die Ausgangssituation: "Während die Mehrzahl der Parteien die Errungenschaften der EU in wirtschaftlichen Fragen und bei der Friedenssicherung würdigen, verlangen populistische Gruppen eine weitgehende Rücknahme der Integration.

Sie wollen den Vertrag von Maastricht aufkündigen und setzen in ihren Programmen auf isolierte Nationalstaaten. Bei den Europawahlen entscheidet sich damit auch, ob Populismus oder Reformbewegungen die Zukunft Europas in der neuen weltwirtschaftlichen Ordnung bestimmen werden."

Geht es also bei dieser Wahl darum, dass die aufsteigenden Rechten, die Salvinis, Le Pens, Strache/Vilimskys, die Orbáns und die Wilders, die Nigel Farages und die Dänische Volkspartei sowie ein Dutzend kleinerer rechter Parteien und Parteiführer die das Europäische Einigungswerk zertrümmern?

EU zerstören ist out, "ändern" ist in

Der Rechtsruck in den einzelnen Ländern ist bedenklich genug. Und die Absichten der "EU-Skeptiker", die man korrekterweise EU-Feinde nennen sollte, sind ja klar ausgesprochen worden. Marine Le Pen wollte die EU "zerstören". Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache und seine FPÖ-Kollegen Norbert Hofer und Harald Vilimsky haben alle noch vor kurzem einen "Öxit", einen Austritt aus der EU in den Raum gestellt.

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Rechtspopulisten schwenken um. Sie wollen die EU nicht mehr zerstören, sondern sie "verändern".
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Man beachte die Vergangenheitsform. Die rechten Austrittsbefürworter, von Le Pen bis Norbert Hofer, der ihr die Hand küsste, haben inzwischen erkannt, wurden durch Umfragen belehrt, dass die allermeisten Bürger nicht austreten oder die EU über Bord werfen wollen.

Allerdings haben sich die Rechtspopulisten umgestellt. Sie wollen die EU nun nicht mehr zerstören, sondern "ihr neue Regeln geben" (Salvini). Das heißt im Klartext: Auflösung des Maastrichter Vertrags und seiner wirtschaftspolitischen Richtlinien, Auflösung des Europäischen Gerichtshofs mit seinem lästigen Beharren auf Meinungsfreiheit und Menschenrechten, Auflösung oder totale Schwächung der EU-Kommission, Aufgabe des Euro.

Da würde wohl nur eine Zollunion übrig bleiben und regelmäßige Treffen der Staats-und Regierungschefs, bei denen noch mehr Unverbindliches beschlossen würde als heute schon.

Besteht eine Chance, dass sich durch ein entsprechendes Wahlergebnis so etwas im Ernst umsetzen lässt?

Kein geschlossener Block

Derzeit haben die ausgesprochen rechts stehenden Parteien rund 22 Prozent der 751 Sitze im europäischen Parlament. Die Umfragen sprechen ihnen 25 bis 26 Prozent zu. Beachtlich, aber noch weit entfernt von jeder Mehrheit.

Und selbst dann wird man die Rechten im EU-Parlament nicht als geschlossenen Block betrachten können. Derzeit gibt es drei größere Fraktionen, die größte um Le Pens Rassemblement National (vormals Front National), Salvinis Lega, die FPÖ, die deutsche AfD und dänische sowie finnische Rechtsparteien. Heftig umworben sowohl von Salvini als auch von der FPÖ wird derzeit der ungarische Autokrat Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz, der allerdings noch zur Europäischen Volkspartei, den Christdemokraten und Konservativen, gehört. Wegen seiner undemokratischen, EU-feindlichen und unkooperativen Politik wurde zwar die Fidesz-Mitgliedschaft suspendiert, aber noch gehört Orbán dazu. Ob er nach der Wahl zu Salvinis Sammlungsbewegung stößt, ist unklar.

Die zweite größere Rechtsgruppe im Parlament, die "Europäischen Konservativen und Reformer", bestehen im Wesentlichen aus den britischen Tories und der polnischen PIS. Die Briten nehmen nun doch an der Wahl teil, was bedeutet, dass die Tories furchtbar abgestraft werden und die neue Brexit-Partei von Nigel Farage vielleicht stärkste britische Partei wird (auch die Labour Party wird ihren lauen Brexit-Kurs büßen). Ob und wo sich Farage dann anschließt, ist unklar.

Jedenfalls ist nicht zu erwarten, dass sich die verschiedenen rechten Gruppierungen zu einer einzigen Fraktion zusammenschließen. Erstens ist internationale Zusammenarbeit unter Nationalisten ein Widerspruch in sich. Zweitens sind die Interessenlagen zu unterschiedlich. Ein paar Beispiele: Die polnische PIS blickt mit äußerstem Misstrauen auf die Putin-Affinität von Le Pen, Salvini und der FPÖ. Moskauhörigkeit kommt in Polen ganz schlecht an.

Dann ist mehr als fraglich, ob die rechten Deutschen von der AfD, die ja ursprünglich als Anti-Euro-Partei begonnen haben, die bereits angekündigte Schuldenhemmungslosigkeit von Salvinis Lega unterstützen würden. Salvini ist auch dafür, dass Flüchtlinge verpflichtend über ganz Europa verteilt werden. Da stößt er auf eine Ablehnungsfront aller anderen.

Der große rechte Block ist trotz aller Erfolge, die die Rechtspopulisten und Rechtsextremen in den einzelnen Mitgliedsländern erzielt haben und die sie bei der EU-Wahl wohl erzielen werden, keineswegs gesichert. Es wird allerdings punktuelle Aktionen (und Störmanöver) geben, um den anderen das Leben schwerzumachen.

Deal mit den Rechten

Die anderen: Von ihnen war bisher kaum die Rede. Die beiden traditionellen Großparteien, die Christdemokraten und die Sozialdemokraten, werden Federn lassen müssen. Das hat aber strategische Folgen, da die Mehrheit, die die beiden Parteifamilien bisher im Parlament hatten, wohl dahin ist. Man rechnet, dass die EVP auf etwa 170 Sitze, die SPE auf 130 Sitze abstürzt. Damit braucht man einen dritten Partner für eine Mehrheit.

Der bietet sich in Gestalt der neuen Parteienfamilie an, die der französische Präsident Emmanuel Macron nach der Wahl gründen will: die Liberalen (Alde) plus einzelne grüne und sogar linke Parteien. Das soll "Renaissance" heißen und einerseits die EU-Politik erneuern, andererseits der Europäischen Volkspartei das Recht auf den EU-Kommissionspräsidenten (Kandidat Manfred Weber) streitig machen. Den niederländischen Premier Rutte und die Neos hat Macron schon an Bord.

Auf eines muss man allerdings achten: Theoretisch könnte die EVP einen Deal mit den Rechten machen, um ihren Kandidaten Weber durchzubringen. Im ausführlichen STANDARD-Interview von Tom Mayer schien Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das nicht für völlig ausgeschlossen zu haben. (Weber hat allerdings erklärt, er wolle das nicht.)

Durch die Hintertür

Macrons Initiative ist als Antwort des liberalen Europas auf das rechte Europa gedacht. Aber die Rechtspopulisten und Rechtsextremen können trotzdem größeren Einfluss in der EU erlangen, und zwar sozusagen schleichend: Wenn nämlich die Traditionsparteien beginnen, die erfolgreichen Slogans und Politikvorstellungen der Rechten zu übernehmen. Etwa in der Migrationspolitik. Oder auch in der Polemik gegen Brüssel. Der Erfolg von Österreichs Sebastian Kurz beruht genau darauf, und in der deutschen CDU/CSU gibt es Tendenzen, es ihm nachzumachen. So könnten – wie in Österreich bereits geschehen – rechte Inhalte bei den Traditionsparteien Einzug halten. Das wäre ein Sieg der Rechten durch die Hintertür. (Hans Rauscher, 19.5.2019)