Neos-Spitzenkandidatin Claudia Gamon setzt sich für eine radikale Umstellung der EU-Agrarförderungen ein – und glaubt, dass Österreich-Liebe in der Innenpolitik nicht zu kurz kommt.

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Beate Meinl-Reisinger ist schon weg. Die Neos-Chefin ist gerade erst aus ihrer Babypause in die Politik zurückgekehrt und räumt nun ihr Büro für die Spitzenkandidatin Claudia Gamon. Allerdings nur für das Interview mit dem STANDARD – in den Klubräumen war gerade kein anderes Zimmer frei.

STANDARD: Die Neos sind für eine Impfpflicht, für eine CO2-Steuer, eine europaweite Unternehmenssteuer. Haben Sie den Liberalismus schon aufgegeben?

Gamon: Darf man nur liberal sein, wenn man gegen Steuern ist?

STANDARD: Es geht zumindest oft genug Hand in Hand.

Gamon: Wir sind ganzheitlich liberal. Wir sind keine fundamentalistische Partei, sondern setzen uns dafür ein, dass Politik gute Lösungen bringt. Gerade das Thema CO2-Steuer ist ein super Beispiel: Wir wollen Wirtschaft und Umwelt zusammenbringen und einen fundamentalen Wandel des ganzen Systems durchführen. Wenn man wie von uns vorgeschlagen die Steuern auf Arbeit massiv senkt und stattdessen nach dem Verursacherprinzip die Emissionsbesteuerung hinaufschraubt, werden Zugreisen billiger als Flüge und auch nachhaltige Lebensmittel günstiger. Da verwenden wir ganz bewusst eine marktwirtschaftliche Logik, um den Klimawandel aufzuhalten. Das ist grundliberal.

STANDARD: Der Wahlkampf läuft gut für Sie, Sie setzen eigene Themen, bis jetzt gab es keine großen Unfälle – warum stehen Sie immer noch bei nur acht Prozent?

Gamon: Bei der letzten Nationalratswahl haben wir fünf Prozent geschafft. Wir sind klein, aber oho und stehen zu unseren Überzeugungen. Dass wir jetzt mit kontroversen Forderungen bei acht Prozent stehen, spricht dafür, dass viele Menschen auch diese Art von Politik haben wollen.

STANDARD: Dennoch: Die acht Prozent hatten Sie auch 2014 nach einem suboptimalen Wahlkampf.

Gamon: Das ist schwierig zu vergleichen: 2014 waren wir gerade erst im Nationalrat und erlebten eine Hype-Phase.

STANDARD: Sie fordern die Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Soll das Parlament parallel dazu gewählt werden?

Gamon: Die EU-Regierung, wie wir sie fordern, soll nur halb so groß wie die jetzige Kommission sein und von einer direkt gewählten Präsidentin angeführt werden. Man darf diese Fragen der Identifikation der Bevölkerung mit der Politik nicht unterschätzen. Im Moment gibt es einen Scheinprozess über die Spitzenkandidaten – aber schon jetzt machen sich die Regierungschefs aus, wen sie stattdessen vorschlagen. Das ist ja vollkommen würdelos.

STANDARD: Es könnte dann aber passieren, dass der Kommissionspräsident keine Mehrheit im Parlament hat.

Gamon: Es ist doch sehr unrealistisch, dass jemand direkt gewählt werden würde, der nicht von einer der großen Parteienfamilien unterstützt wird.

STANDARD: Ausgeschlossen ist es nicht.

Gamon: In einer Demokratie können immer unvorhergesehene Dinge passieren. Ich halte es trotzdem für enorm wichtig, dass es eine Identifikation der europäischen Bevölkerung mit ihren Politikern gibt.

STANDARD: Wie kann man sich den Dienst in einer europäischen Armee vorstellen? Dient man dann mit Iren und Finnen unter dem Kommando einer Griechin?

Gamon: Das ist ein langfristiges Projekt. Wir wollen zunächst die Beschaffung, die Ausbildung und die Kommandostrukturen vereinheitlichen. Unabhängig davon, ob man eine gemeinsame Armee will, ist das etwas vollkommen Sinnvolles. Wenn wir das erreicht haben, können wir uns politisch darüber unterhalten, ob wir den Schritt zur gemeinsamen Armee gehen wollen. Selbstverständlich würden da alle gemeinsam in einem Heer dienen.

STANDARD: In welcher Form soll das österreichische Bundesheer dabei erhalten bleiben?

Gamon: Wir haben jetzt ein Ziel vorgegeben, aber auf dem Weg dorthin werden wir uns darüber unterhalten müssen, wie das konkret aussehen wird. Aber meine Mitbewerber sind ja nicht einmal bereit zu sagen, dass es natürlich in diese Richtung gehen wird. Alle haben Angst davor, das auszusprechen.

STANDARD: Sie wollen eine generelle Reduktion der Agrarförderungen. Die machen jetzt ca. 40 Prozent des Gesamtbudgets der EU aus. Um wie viel sollen sie sinken?

Gamon: Ich möchte da gar keine konkrete Zahl nennen. Erste Priorität muss sein, dass die Agrarförderungen grundsätzlich anders funktionieren. Ein Großteil sind jetzt Direktzahlungen, das hat einfach keinen inhaltlichen Nutzen. Wir Neos sind Verfechter einer integrierten Landwirtschaft, bei der weniger Pestizide und Herbizide verwendet werden. Das ist in der Art und Weise, wie Landwirtschaft in der EU gefördert wird, nicht abgebildet. Deshalb muss man als allerersten Schritt die Direktförderungen massiv senken und stattdessen in eine qualitative Förderung investieren.

STANDARD: Und das geht mit insgesamt weniger Geld?

Gamon: Man muss sich schon die Frage stellen, ob das Verhältnis stimmt – wenn man sich anschaut, wie viel Geld in Agrarsubventionen und wie viel in Forschung und Entwicklung geht. Mit ein bisschen weniger würde das Agrarsystem auch auskommen.

STANDARD: Das wird viele Landwirte nicht froh machen.

Gamon: Es gibt wirklich genügend Bauern, die schon jetzt die Nase voll haben von der aktuellen Art der Förderung. Wir müssen endlich von diesem alten Bild wegkommen, die Bauern wären zu blöd, um Landwirtschaftspolitik zu verstehen. Vielleicht würden viele gerne anders produzieren, aber die Förderungen funktionieren eben so, dass sie auf einen bestimmten Typ der Landwirtschaft ausgelegt sind.

Gamon: "Es muss in der EU ein klares Recht sein, dass jede Frau einen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen hat. Aber es ist nicht so."
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STANDARD: Es gibt beim Klimaschutz zwei Linien: Die einen mahnen die Verantwortung des Einzelnen ein, weniger zu fliegen, weniger Fleisch zu essen. Die anderen lehnen genau das ab und fordern politische Regeln. Welche vertreten Sie?

Gamon: Ich würde widersprechen, dass es nur diese zwei Richtungen gibt. Ich halte es für armselig von der Politik, wenn sie sich an den Konsumenten abputzt und sagt: Solange ihr nicht bereit seid, euren Lebensstil zu ändern, seid ihr das Problem. Es ist die Aufgabe der Politik, dass es uns einfach gemacht wird, gute Entscheidungen für das Klima zu treffen. Da kommen wir wieder zum Thema CO2-Steuer. Damit gibt man den Menschen die Möglichkeit, dass sie gute Entscheidungen nicht nur zur Selbstgeißelung treffen, sondern weil es vernünftig ist.

STANDARD: Also eher die zweite Linie.

Gamon: Nein! Es kann dann immer noch jeder seine eigene Verantwortung wahrnehmen. Ich bin auch leidenschaftliche Zugfahrerin und esse seit zwölf Jahren kein Fleisch mehr. Ich will das aber niemand anderem vorschreiben. Die Politik hat die Verantwortung, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass wir alle etwas zum Klimaschutz beitragen können. Wenn die Politik nicht bereit ist, hier die Verantwortung zu übernehmen, sind die falschen Leute an der Macht.

STANDARD: Sie fordern einen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen für alle Frauen in der EU. Konsequenterweise müsste sie dann die Krankenkasse zahlen, oder?

Gamon: Es muss in der EU ein klares Recht sein, dass jede Frau einen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen hat. Aber es ist nicht so. Es ist in Ländern wie Polen nicht so, und es gibt noch andere Staaten, die sehr restriktive Regeln haben. Die EU sollte sich dem Ziel verschreiben, dass in jedem Mitgliedsstaat Frauenrechte hochgehalten werden.

STANDARD: Wenn ein Abbruch mehrere Hundert Euro kostet, hat eine Frau aber keinen niederschwelligen Zugang.

Gamon: Die Staaten können sich entscheiden, ob sie zum Beispiel mehr in Verhütung investieren oder den Abbruch zahlen. Das kann schon nationale Kompetenz bleiben.

STANDARD: Lieben Sie Österreich?

Gamon: Das ist eine komische Frage.

STANDARD: Ich stelle sie, weil Sie immer die Liebe zu Europa proklamieren.

Gamon: Ja, und ich liebe auch Vorarlberg, dann liebe ich auch Österreich und die Welt. Aber ich glaube, die Österreich-Liebe kommt in der österreichischen Politik nicht zu kurz. Ich stehe dazu, dass diese vorgegaukelte, völkische Identitätsgeschichte nicht meine Sache ist. Wir können Identitäten haben, die ganz vielfältig sind. Das wird immer wieder gegeneinander ausgespielt, wenn es darum geht, wessen Interessen man vertritt in Europa: die europäischen oder die österreichischen. Das ist ein konstruierter Widerspruch, der ganz bewusst immer von Nationalisten gesetzt wird. Wer Österreich liebt, der muss sich für ein starkes Europa einsetzen. Deshalb ist auch das, was ÖVP und FPÖ machen, antipatriotisch. (Sebastian Fellner, 17.5.2019)