Warum brauchen wir Dokumente? Warum benötigen wir Archive? Manch einer würde sich denken, dass man sich zu den Archiven begibt, um ein Beweisstück über die Vergangenheit ausfindig zu machen. In den Archiven dieser Welt, in denen ich gearbeitet habe, bin ich Leuten begegnet, die glaubten, die Archive seien jene Orte, in denen sie auf die Wahrheit über ihre Vergangenheit stoßen können. Gleichgültig ob in London oder in Moskau, gehen Menschen in die Archive, um etwa ihre Familiengeschichte auf die Wurzeln zurückzuführen. In solchen Fällen verstehen die Menschen die Archivalien erneut als Beweisstücke.

Anders als die Historiker. Letztere nehmen keineswegs das in den Archiven Ausgegrabene für bare Münze. Im Zuge der letzten Jahrzehnte hat eine Reihe von Gelehrten in aller Ausführlichkeit darüber reflektiert, dass die Archive jeweils in spezifischer Art und Weise organisiert sind, das heißt um eine bestimmte Vision der Geschichte zu unterstützen. Man könnte zugespitzt sagen, dass sie wie eine Art Familienalbum funktionieren. Heutzutage stimmen viele Historiker darin überein, dass die Archive keineswegs ein rein neutraler Aufbewahrungsort der Vergangenheit sind. Sie spiegeln vielmehr eine Form der Staats- oder Regierungsordnung, ein staatlich geführtes Narrativ wider.

Können die Archive quer durch die Zeit, den Raum, die Kulturen einander ähnlich sein? Werden die dort gesammelten Dossiers derart penibel gemeistert und zu den gleichen Zwecken aufbewahrt, mit denen wir im Westen vertraut sind? Oder würden die Archivierungspraktiken zum Beispiel in der Geschichte der islamischen Welt andere, ganz unterschiedliche Staatlichkeits- und Regierungsformen reflektieren?

Das Archiv der Khane von Chiwa

Chiwa war lange Zeit die Hauptstadt einer Region, die unter dem Namen Choresmien bekannt ist und ungefähr dem Territorium der größten Oase Zentralasiens entspricht – ein Juwel, das zwischen den drei auf dem Gebiet der heutigen Republiken Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan gelegenen Wüsten eingebettet ist. Aus der nach der Kriegskampagne des iranischen Eroberers Nadir Shahs verbliebenen Asche entstand eine neue usbekische Stammesdynastie, jene der Qongraten, die Choresmien unter ihre Kontrolle brachte. Die Qongraten-Dynastie regierte von den 1770er-Jahren bis 1873, als die Russen Chiwa belagerten und dort anschließend ein Protektorat etablierten, das bis zum Jahre 1924, also bis zur Etablierung der Sowjetmacht, in der Region existierte.

Chiwa, Usbekistan.
Foto: V.N Kovrein

Als die Russen in die Stadt einzogen, fanden sie eine umfangreiche Sammlung von Aufzeichnungen in arabischer Schrift, die mehr als 10.000 Einzeltitel umfasste. Gemeinsam mit den etwa 300 Kodizes gehörten sie der Kanzlei des Khanats von Chiwa an. Die Dokumente wurden unverzüglich nach St. Petersburg abtransportiert. Dort lagen sie in Vergessenheit bis 1936, als der sowjetische Orientalist Pawel Iwanow sie in der Öffentlichen Bibliothek der gleichen, damals Leningrad genannten, Stadt ausfindig gemacht hat. Seit ihrer (Wieder-)Entdeckung durch Iwanow wurde diese Textsammlung unter der Bezeichnung "Archiv der Khane von Chiwa" (russisch: "Archiv chivinskich chanov") bekannt. Im Jahr 1962 wurde die gesamte Sammlung der damaligen sowjetischen Teilrepublik Usbekistan zurückgegeben. Dieses Archiv hat für uns eine enorme Bedeutung, da es heutzutage die reichste Sammlung von Texten in arabischer Schrift aus dem islamischen Zentralasien darstellt, die die ganze Periode vor der russischen Eroberung abdeckt.

Der "einheimisch-ethnografische" Staat

Die Dokumente aus den Archiven Chiwas bringen zwei auffällige Merkmale zum Vorschein. Das erste ist das Fehlen eines einheitlichen Wortschatzes zur Beschreibung der choresmischen Gesellschaft – eines Erfassungssystems, das dem Khanat verhelfen würde, das Wissen über seine Untertanen zu disziplinieren. Das Archiv reflektiert einen Versuch, die Lokalbevölkerung zum Selbstausdrücken zu bringen, als eine Bemühung, einen Diskurs in Bewegung zu setzen, mit dem man die eigene Herrschaft und Hegemonie auf die Welt rund um Chiwa projizieren hätte können. Das Khanat Chiwa war eine staatliche Formation, die sich ausdrücklich auf lokale politische Einheiten zu verlassen pflegte.

Dies ist natürlich von Bedeutung, um die Loyalität zu stärken und die gesellschaftliche Beteiligung an der Kommunikation mit der Dynastie und ihrer Administration zu fördern. Aber das lässt auch die Gefahr entstehen, den Staat zu den mehrfachen, wenn auch widersprüchlichen, Sorgen der Gesellschaft viel zu nahe zu bringen. Es sieht so aus, als hätte das Khanat viele Dinge gesehen. Wahrscheinlich fehlten ihm aber die Mittel, das Wissen, das es produzierte, zu verarbeiten und zu systematisieren. Das Khanat Chiwa war ein "einheimisch-ethnografischer" Staat, der den verschiedenen Ausdrucksformen des Lokalismus vielleicht viel zu stark sympathisierte, um diesen seine eigenen interpretativen Kategorien auferlegen zu können.

Ein Archiv für lokale Historiker

Dies bringt mich zum zweiten und wichtigsten Merkmal der Chiwa-Archive, das der Materialität derartiger Texte innewohnt. Warum bewahrten sie die Khans überhaupt auf? Bezüglich der Register oder der königlichen Vollmachten für Hoflieferanten ist es offensichtlich, dass diese Texte die Kraft von gesetzlichen Präzedenzfällen besaßen. Die Botschaftermitteilungen, die Berichte von Schlachtfeldern, die Berufungen auf die Loyalität von Nachbarstämmen und viele andere Arten von Aufzeichnungen stellen jedoch einen anderen und komplexeren Fall dar. Es sind dies Texte, die hochwahrscheinlich den Qongraten erlaubten, die Gesellschaft irgendwie unter Kontrolle zu behalten, und erlaubten es dem Hof, seine politischen Maßnahmen anzupassen, um soziale Verhältnisse zu verändern. Die Aufbewahrung dieser Texte stellt jedoch ein Problem dar. Am wahrscheinlichsten verloren diese Aufzeichnungen innerhalb eines kurzen Zeitraums ihren ursprünglichen Dokumentationswert. Es ist nun einmal schwer vorstellbar, dass die Khane von Chiwa sonderlich engagiert waren, die Hilferufe einzelner Personen nach einem Angriff der Kasachen auf ihre Karavanen für die Ewigkeit aufzubewahren.

Die Frage lautet also: Was für ein Nachleben erhielten solche Texte dadurch, dass sie sich nunmehr im Archiv befanden? Um diese Frage zu beantworten, würde ich mit der Hausverstand-Beobachtung beginnen, dass die Textualisierung Faktizitäten erzeugt, das heißt, dass sie die Ereignisse in der Zeit festlegt und sie der Geschichte anvertraut. Ein Dokumentationsprojekt wie jenes von Chiwa ist deshalb eine Möglichkeit, Geschichte zu erschaffen. Und es sollte uns daher nicht überraschen, dass sämtliche kleine Details über einen Botschafterbesuch oder Berichte über die x-ten Gefechte mit den Turkmenen des Öfteren erst durch die Arbeit der Hofhistoriker unsterblich gemacht wurden. Unter den Bergen von blumigen Worthülsen und Lobpreisungen lassen sich viele Elemente finden, die darauf andeuten, dass derartige Dokumentationspraktiken in der Abfassung historischer Werke gipfelten und die auf Beispiele hinweisen, in denen ein Dokumentationsgenre ins Historische metamorphierte. Tatsächlich können wir nun zeigen, in welchem Maße sich die Historiker auf die bürokratischen Praktiken der Verarbeitung von Berichten und Meldungen verließen.

Dies lässt sich nachweisen, indem man auf minutiöse Weise die letzten dynastischen Chroniken mit der Dokumentensammlung vergleicht, die wir heute unter dem Namen "Archive der Khane von Chiwa" kennen. Das Archiv der Khane Chiwas war höchstwahrscheinlich ein Aufbewahrungsort von Aufzeichnungen zum Gebrauch lokaler Historiker.

Muhammad Amin Khan Medrese in Chiwa.
Foto: V.N Kovrein

So betrachtet verkörpert eine zwischen der zweiten Hälfte des 18. und dem ausgehenden 19. Jahrhundert in einer zentralasiatischen Oase entstandene Sammlung von Aufzeichnungen Staatlichkeits- und Regierungspraktiken, die denjenigen ähneln, die für das Staatswesen im frühmodernen Europa typisch sind. Es gibt allerdings eine wesentliche Anzahl von aus dem Chiwa-Archiv stammenden Texten, die sich unserem Verständnis entziehen und deren mögliche Funktionen und Aufbewahrungsgründe unklar bleiben.

Archive und Dokumente in der persisch geprägten Welt

Die Sommerschule "Cultures of Documentation in Persianate Eurasia (15th–19th Centuries)" vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Themenplattform "Religion, Gesellschaft und Politik im euro-asiatischen Raum" und der Jungen Akademie finanziell unterstützt, hat es sich zum Ziel gesetzt, die Diversität in den Dokumentationskulturen jener Teile Eurasiens zu erfassen, in denen das Persische − in einer Situation anhaltender Vielsprachigkeit − als Medium zur gelehrten und diplomatischen Kommunikation verwendet wurde. Diese Sommerschule verbindet Wissenschafter und Studierende aus Nordamerika, Europa, Südasien und den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die sich den Herausforderungen gegenüber der Erforschung der Aufzeichnungen, Schreibpraktiken und Archivierungstätigkeiten in der islamisch geprägten Welt zuwenden möchten. Unsere Sommerschule erachtet als ihre Prioritäten das Studium von Sammlungen von in arabischer Schrift entstandenen Aufzeichnungen der (früh-)modernen Periode in der heutigen Türkei, in Kaukasien, Iran, Zentralasien und Indien. Des Weiteren hat sich dieses Ereignis zum Zweck gesetzt, unterschiedliche Disziplinen wie Geschichte, Philologie, Paläografie, Kodikologie und Anthropologie ins Gespräch zu bringen. (Paolo Sartori, 22.5.2019)