Sie steht dem Leutnant von Trotta als geheimnisvolle Dame Tod bei: Andrea Jonasson bezaubert als Chronistin der kollabierenden Monarchie.

Foto: Moritz Schell

Der einsamste Mensch der ganzen Donaumonarchie ist zugleich ihr treuester Diener. Im Wiener Josefstadt-Theater gibt es, Regisseur Elmar Goerden sei Dank, Joseph Roths Roman Radetzkymarsch zu bestaunen. Eine Bühne mit Papiermodulen dreht sich stumm im Kreis (Ausstattung: Silvia Merlo, Ulf Stengl). Zwischen den zugigen Wänden steht, verloren wie ein Waisenkind im bloßen Hemd, Carl Joseph von Trotta (Florian Teichtmeister).

Dieser Enkelsohn eines Kriegshelden erlebt die letzten Zuckungen der Doppelmonarchie aus nächster Nähe: die Daseinsbekundungen einer todgeweihten Lebensform. Und weil niemand den sklerotischen Kaiser und sein Reich so innig und aufrichtig geliebt hat wie Roth, ohne darüber ihre schändlichen Seiten zu verschweigen, versinkt sein herrliches Buch von 1932 noch heute in prächtiger Melancholie.

Trottas Großvater rettete Franz Joseph einst bei Solferino das Leben. Im Josefstadt-Theater trägt der Ahne die edlen Züge des Schauspielers Michael König. Den schweren Holzrahmen, der sein Porträt herausstellen soll, schleppt er sicherheitshalber gleich selbst über die Bühne.

Kopfschuss beim Wasserholen

Von distanzierenden Zeichen und umständlichen Prozeduren lebt der ganze, merkwürdig unentschlossene Abend. In den Rang einer Erzählerin wird eine wunderschöne Dame Tod (Andrea Jonasson) erhoben. Sie wird sich im Verlauf der Handlung als Figur des Chojnicki herausstellen: ein einsamer, galizischer Mystiker, dessen Weg sich wiederholt mit demjenigen des jungen Trotta kreuzt. Da ist es für diesen schon fast zu spät – was im selben Maße ja auch für seine langjährige Arbeitgeberin, die Monarchie, gilt. Sie übersteht den Krieg nicht, der den Leutnant Trotta das Leben kostet: durch einen Kopfschuss beim Wasserholen in Galizien, "mit zwei Eimern in der Hand im Dreck".

Joseph-Roth-Kenntnisse sind dringend erforderlich, möchte man Geschmack finden an Goerdens Unternehmung. Nicht nur Jonasson spricht viel Romanprosa. Überhaupt alle Figuren müssen den jeweiligen Umraum erkunden helfen – indem sie reihum sprechen, was der Erzähler Roth so unvergleichlich diskret dem Papier anvertraut hat.

Vor allem aber ist Radetzkymarsch ein Generationenroman. Der Vielvölkerstaat bricht an immer mehr Nahtstellen auf; das Geschlecht der Trottas hingegen baut sukzessive ab. Trottas Papa (Joseph Lorenz) soll als verknöcherter Bezirkshauptmann das Ebenbild des Kaisers abgeben. Hier klopft er als beengter Mensch den Takt der ablaufenden Zeit auf das Gehäuse der Uhr.

Tragödie eines Arztes

Als ob Goerden der eigenen szenischen Kraft misstrauen würde, halst er den Figuren lauter "sprechende" Details auf. Verschiedene junge Damen (Pauline Knof, Alexandra Krismer) verzehren sich inbrünstig nach besonders suggestiven Proben von Trottas Lendenkraft. Sie werfen sich dabei allzu nymphomanisch ins Zeug. Die Tragödie eines gemobbten jüdischen Regimentsarztes (Peter Scholz) wird im Vorbeigehen erledigt, abgehakt wie ein lästiger Tagesordnungspunkt.

Goerdens Joseph-Roth-Mühle mahlt den Zauber des Romans klein. Heraus kommt Szenenschrot: die Handlungen und Bekenntnisse von Figuren, die unzweifelhaft von Roth stammen, seine Sätze sprechen, ihre Verzweiflung atmen. Zwischen ihnen und den zerreißenden Wänden aber steht Teichmeisters Trotta und starrt Löcher der Verblüffung in die Luft. Irgendwann davor hieß es, es sei "eine Tatsache, dass wir nicht mehr leben". Leider ist der ganze schöne Abend niemals wirklich zum Leben erwacht. (Ronald Pohl, 17.5.2019)