Einer der Wissenschafter (Schauspieler Ben Whishaw) in Jessica Hausners "Little Joe", dem österreichischen Wettbewerbsbeitrag.

Als Lebender fühlt man sich dieses Jahr in Cannes schon etwas einsam. Jim Jarmuschs Zombies machten es vor, dann folgten andere Untote und Wiedergänger wie auf dem Fuße. Jessica Hausners Little Joe, der österreichische Wettbewerbsbeitrag, brachte am Freitagnachmittag noch eine weitere kreatürliche Variante ein. Eine genmanipulierte Pflanze, die eigentlich dazu geschaffen wurde, Menschen durch ihre Duftstoffe glücklicher zu machen. Die jedoch anders wirkt: Wer ihr zur nahe tritt, wird von seinen Mitmenschen alsbald als verändert wahrgenommen.

Hausners Film erntete nach der Premiere freundlichen, aber keinen begeisterten Applaus. Der Film, der sich an Sci-Fi-Horrorklassiker wie Invasion of the Body Snatchers oder Little Shop of Horrors anlehnt, ist in dem schon charakteristisch zurückgenommenen, sanft ironischen Tonfall der Wiener Regisseurin gehalten, der auch Ungeheuerlichkeiten eine profane Note verleiht. Erstmals hat Hausner mit britischem Cast gedreht: Emily Beecham verkörpert die Wissenschafterin Alice als scheue, gleichzeitig warmherzige Frau wunderbar nuanciert. Zugleich ihrer Pflanze wie dem eigenen Sohn verpflichtet, gerät sie immer mehr darüber ins Grübeln, welcher Mutterrolle sie sich zuwenden soll. Das kann man auch als witzigen Beitrag Hausners zum Thema Geschlechterrollen verstehen.

Inszenatorisch ist Little Joe aus einem Guss. Das ausgeklügelte Produktionsdesign, das außer der giftig roten Blume alles in eher kühle Farben taucht, das leicht befremdlich Spiel der Darsteller, die minimalistische Musik von Teiji Ito – all das verleiht dem Film eine genuin artifizielle Note. Hausners Augenmerk liegt auf der Feinbeobachtung der Veränderungen. Das Drehbuch ist nicht ganz auf der Höhe dieser Kunst. Bisweilen wird eine Spur zu viel von dem erklärt, was ohnehin die Bilder vermitteln. Am Ende geht das Spiel mit Mutmaßungen und Ahnungen aber schlüssig auf.

TIFF Originals

Das Langfilmdebüt der senegalesisch-französischen Regisseurin Mati Diop, der ersten schwarzen Filmemacherin, die es in den Wettbewerb von Cannes geschafft hat, sieht anfangs noch nach einem realistischen Drama aus. Während sich etliche Filme der letzten Jahre mit dem Schicksal von Flüchtenden auf dem Mittelmeer befassten, kehrt Atlantique nun auf lohnende Weise die Perspektive um. Erzählt wird von Ada (Mama Sané), einer jungen Frau, die in Dakar zurückbleibt, nachdem sich ihr Liebhaber über Nacht nach Europa aufgemacht hat.

Atlantique bleibt zunächst auf die sozialen Zwänge fokussiert, mit der man Ada in die Gesellschaft einweisen will. Eine arrangierte Ehe mit einem neureichen Geck soll der Familie zum Aufstieg verhelfen. Doch dann beginnen sich seltsame Vorkommnisse zu häufen. Das Ehebett der Vermählten geht in Flammen auf, später tritt eine unheimliche Frauenkohorte auf und bedrängt einen gewissenlosen Unternehmer, seine Schulden zu begleichen.

Ohne sich von den Fesseln der Realität zu lösen, dockt Atlantique an einem spirituellen Kino an. Man könnte ihn einen Geisterfilm nennen, weil es die Toten sind, die den Ausgebeuteten zu Hilfe heilen. Das Übernatürliche behandelt Diop aber nur als ein Element unter vielen. Stilistisch erinnert das vor allem an die Filmemacherin Claire Denis. Sie baut ihre Szenenfolgen ähnlich fließend, rückt Gefühlslagen, nicht den Plot in den Mittelpunkt. Man kann in die traumähnlichen Bildern richtiggehend einsinken, sich von der Musik von Fatima al Qadiri forttreiben lassen.

Erratischer als bei Diop stehen sich Reales und Übernatürliches im neuen Film des französischen Regisseurs Bertrand Bonello gegenüber. Zombi Child wirkt stellenweise wie ein Weiterführung von Themen aus Nocturama, seinem Film über eine Pariser Jugend, die sich mit Terror gegen den Neoliberalismus aufbäumt. Diesmal interessieren Bonello die energielosen Schülerinnen eines Eliteinternats, die sich heimlich für schwarze Magie und Voodoo begeistern. Parallel dazu erzählt er die Geschichte eines "realen" Zombis in Haiti. Ein Mann, der lebend begraben wurde und als halbtoter Sklave gehalten wurde.

Quinzaine des Réalisateurs

Bonellos Film ist betont fragmentarisch, fast wie ein Kompendium aufgebaut. Er setzt Szenen wie steile Thesen zueinander in Beziehung. Geht es Bonello um fehlgeleitetes Rebellentum, das sich in sektiererischem Verhalten verliert, anstatt sich zur politischen Handlung zu bündeln? So simpel ist es nicht, denn bei den spirituellen Praktiken geht es stets auch um Selbstbestimmung.

Die Bilder, die Bonello für diese Gratwanderung findet, sind jedenfalls exquisit. Die Nachtszenen in Haiti wirken wie eine Hommage an Jacques Tourneurs I Walked With a Zombie, während jene Internat an Dario Argento denken lassen.

Screen International

(Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 18.5.2019)