2004 schmückte Franz Stocher noch die olympischen Bahnbewerbe in Athen. Fünf Olympiateilnahmen hatte vor ihm kein Radfahrer geschafft.

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Stocher führt die Geschäfte des Sportzentrums Niederösterreich.

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Stocher holte 2003 WM-Gold.

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Im Jänner 2003 lag Franz Stocher daheim in Pressbaum mit 140 Ruhepuls auf der Couch, "also mit 100 mehr als sonst". Wenige Tage davor war der Radprofi beim Sechstagerennen in Berlin wegen Fiebers von der Bahn genommen worden – Pfeiffersches Drüsenfieber war ihm diagnostiziert und "heimgehen, hinlegen, abwarten" geraten worden.

"Eine bessere Therapie gab es damals nicht. Das war schwer für mich." Umso schwerer, als Stocher in der Bahnrad-WM, die sechs Monate später in Shenzhen, China, steigen sollte, als quasi regierender Vizeweltmeister im Punktefahren ein Ziel vor Augen hatte.

70-Jähriger stärker

Nach einem Monat, kurz vor seinem 34. Geburtstag, kam der Familienvater wieder auf die Beine. Beim Frühjahrstraining auf Mallorca machte Stocher noch derart schwache Figur, dass ihm sogar nahegelegt wurde, das Nationaltrikot lieber nicht auszuführen – der Peinlichkeit wegen.

"Ich bin mit Kurt Schneider um die Insel gegondelt. Und er war stärker." Stochers knorriger Trainingspartner, eine österreichische Radsportlegende, Absolvent der Tour de France, war damals 70 Jahre alt und hatte zwei Bypässe.

Gold aus dem Nichts

In den folgenden Wochen radelte Stocher der WM-Qualifikation vergeblich hinterher. Aber der europäische Radsportverband ließ eine Wild Card springen. Schließlich war Stocher im Jahr zuvor in Dänemark zusammen mit Roland Garber auch Vizeweltmeister der Bahndisziplin Madison gewesen. Und er hatte insofern noch mehr Glück, als das Championat wegen der in Asien tobenden Vogelgrippe nach Stuttgart verlegt wurde.

Das fragile System Stocher ersparte sich Reisestrapazen, brachte aber zwei Busse voller Fans ins Rollen. Und die waren am 1. August 2003 in der Schleyer-Halle völlig aus dem Häuschen darüber, aber eben auch mitverantwortlich dafür, dass Franz Stocher im Punktefahren gegen 24 Konkurrenten und eigentlich jede Chance die Goldmedaille holte.

Beim Punktefahren wird nach dem Massenstart gewöhnlich alle paar Runden um Punkte gesprintet, das Überrunden des Feldes bringt zusätzliche Zähler, überrundet werden kostet sie. Neben Standfestigkeit über 40 Kilometer bei einem Stundenmittel von 55 und Sprintstärke braucht der Athlet viel taktisches Gespür. Stocher ließ auf der Fahrt zu Gold alle Zweifel an der Form hinter sich und seine Erfahrung spielen.

Selbstgewähltes Ende

Dieser Titel war der Höhe-, aber nicht der Endpunkt einer 25-jährigen Radsportkarriere. Den bestimmt Stocher selbst, "und dafür bin ich sehr dankbar. Mir hat keiner gesagt, 'Du bringst es nicht mehr', ich musste nicht wegen Dopings, einer Verletzung oder mangels Sponsoren aufhören. Ich weiß, dass das unfreiwillige Karriereende vielen Sportlern später nachhängt."

Vor der Schweizer Bahnradsportgröße Bruno Risi gewann Stocher am 6. Mai 2005 "völlig überraschend" sein 3000. und letztes Rennen in Purkersdorf. Viele Stars waren ihm zu Ehren aufs Rad gestiegen – Matthias Steiner, der spätere Olympiasieger im Gewichtheben, Markus Rogan, Michael Konsel, ehemalige Radweltstars wie eben Risi und der Belgier Patrick Sercu, heimische Ex-Kollegen sowieso.

In die Wiege gelegt

14 Jahre danach ist Stocher immer noch gerne mit dem Rad unterwegs. Alles andere wäre auch seltsam, drehte sich für ihn doch schon recht früh alles um den Radsport. Vater Franz senior war Hafner und Fliesenleger, aber eben auch ein ambitionierter Pedaleur. Der ältere seiner beiden Söhne sollte den Wiener Bergmeister an Erfolgen weit übertreffen, staturbedingt aber nicht bergauf.

"Ich hatte nicht die Anlagen zum Glocknerkönig, wog nie 48 Kilo als Nasser mit Skischuhen", sagt Stocher, dessen erstes Rennrad ein Freddy Maertens, das Modell eines Sprinters war, und der mit zwölf Jahren zu gewinnen begann. Rund 600 Siege sollten zusammenkommen. Die Familie, auch Mutter Traude, stand hinter ihm, selbst als viele sportbedingte Fehlstunden das schulische Fortkommen arg gefährdeten. "Sportschulen gab es damals noch nicht, es war eine Gratwanderung."

Die Familie wohnte im 21. Wiener Gemeindebezirk, der ambitionierte Spross hatte Platz für seine Leidenschaft und das Ferry-Dusika-Stadion in mit der Straßenbahn erreichbarer Nähe. "So geriet ich auf die schiefe Bahn", sagt Stocher. Er geriet auf normalerweise 400 Meter lange Ovale aus Holz oder Beton, auf denen er sich weltweit die schönsten Erfolge bescheren sollte.

Auf der Straße

Stocher war auch auf der Straße eine Nummer. Zwölfmal fuhr er die Österreich-Rundfahrt, "und ich habe sie immer beendet". Gesamt-13. war das beste Ergebnis des letzten österreichischen Siegers des Klassikers Wien-Gresten-Wien (1994), der später als Uniqa-Classic entschlummerte.

Seine Spezialität waren Soloattacken, "Fernsehausflüge", wie Stocher das auch nennt. Die bestmögliche Präsentation des Teams und der Sponsoren, zumal bei TV-Übertragungen, war für den "kommunikativen Typ" eine Selbstverständlichkeit.

Sechserpack

Auf der Bahn war Stocher ein gutes Jahrzehnt lang ein Siegfahrer, inspiriert durch Roland Königshofer, der als sogenannter Steher hinter dem Motorrad seines kongenialen Schrittmachers Karl Igl auf der Jagd durch die Steilkurven dreimal Amateurweltmeister wurde, das letzte Mal 1991. Beim ersten Titel war Stocher im Team des "Spechts", wie Königshofer heute noch gerufen wird.

Zusammen mit seinem Vorbild fuhr Stocher als 19-Jähriger auch bei seinen ersten Olympischen Spielen, im österreichischen Bahnvierer 1988 in Seoul. Bis 2004 sollten vier weitere Olympiateilnahmen folgen. Das war vor Stocher noch keinem Radsportler gelungen. Rang sechs im Punktefahren der Spiele 2000 passt zu den sechs WM-Medaillen, die er insgesamt einfuhr.

Geschäftsführer

Seit Dezember des Vorjahres ist Stocher, der sein Talent als Netzwerker zum Einstieg ins Berufsleben genützt hatte, gleichsam wieder olympisch. Das Sportzentrum Niederösterreich in St. Pölten, dessen Geschäfte Österreichs zweimaliger Radsportler des Jahres seit 2013 führt, wurde vom Österreichischen Olympischen Comité (ÖOC) als siebentes Olympiazentrum zertifiziert.

Am Mittwoch steigt aus diesem Anlass eine große Fete, vor der sich Viererteams aus prominenten Ex-Sportlerinnen und -Sportler wie Emese Hunyady, Katharina Gutensohn oder Karl Schnabl messen. Stochers Puls wird selbstredend beschleunigt sein, aber nicht ungesund. (Sigi Lützow, 20.5.2019)