Die Auswirkungen der politischen Bombe, die am Freitag um 18 Uhr in Österreich explodierte, bestätigen wieder einmal die Richtigkeit der Reflexionen des russischen Denkers und Revolutionärs Alexander Herzen: "Es gibt kein Libretto. Wenn die Geschichte einem bestimmten Libretto folgen würde, dann verlöre alles Interesse, wäre überflüssig, langweilig und lächerlich ... Geschichte ist ganz Improvisation, ganz Wille und geschieht aus dem Stegreif, es gibt in ihr keine Grenzen und keine Marschwege."

Österreich dürfte erst am Anfang eines umfassenden politischen Reinigungsprozesses mit unabsehbaren Folgen stehen. Nach der dramatischen Selbstentlarvung des wahren Gesichts der beiden Spitzenpolitiker der FPÖ werden die österreichischen Wählerinnen und Wähler zweimal in dreieinhalb Monaten die Möglichkeit haben, die Weichen für die Zukunft der Zweiten Republik zu stellen. Der Bundespräsident fasste die einzigartige Situation und die Notwendigkeit der Neuwahlen in knappen Sätzen zusammen und fügte den entscheidenden Satz hinzu: "Ja die Situation ist unübersichtlich. Aber gerade in dieser Situation sehe ich es als meine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unser Land mit Ruhe und Stabilität durch die nächsten Tage und Wochen geführt wird."

Glücksfall Alexander Van der Bellen

Man kann schon heute sagen, dass sich die Wahl des 75-jährigen Universitätsprofessors Alexander Van der Bellen, mit russisch-estnischem familiärem Hintergrund, zum Bundespräsidenten als ein Glücksfall für unser Land erwiesen hat. Das massive internationale Medienecho der "Ibiza"-Geschichte war zu erwarten und sollte kein Anlass für verzweifelte Kommentare ("Was sagt das Ausland?!") sein. Eine Woche vor den Europawahlen liefert Österreich dank der ruhigen Überlegenheit und den Handlungen unseres Staatsoberhaupts einen überzeugenden Beweis dafür, dass trotz der innenpolitischen Turbulenzen die Instrumente der liberalen Demokratie und der demokratischen Selbstbestimmung funktionieren.

Dass die Journalisten und die Gegner der in Trümmern liegenden Koalitionsregierung nach weiteren kompromittierenden Einzelheiten über die Verstrickung der zum dritten Mal entzauberten Freiheitlichen suchen, ist legitim. Von der europäischen Warte aus darf man aber auch die internationale Dimension des Skandals nicht unterschätzen. Vor allem ist es eine Ohrfeige für Putins Russland, den Zahlmeister für die meisten der rechtsnationalistischen Bewegungen, die zur Zerstörung der EU angetreten sind. Noch peinlicher sind die Videoaufnahmen für Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán, engster Freund und politisches Vorbild der FPÖ-Führung. Er hat vor dem kürzlich als Jubelbesuch gefeierten Gespräch mit Exvizekanzler Strache in Budapest mit dem Hinweis auf das "Modell Österreich" für Europa für die Zusammenarbeit der Parteien der rechten Mitte und des rechten Randes empfohlen.

Was in Wien passiert, sei eine Chance für Österreich und für Europa, sagte die slowenische EU-Kommissarin Violeta Bulc. Ob diese Chance genützt wird, werden wir erst nach der Europawahl und den künftigen Ereignissen, nicht nur in Österreich, beurteilen können. (Paul Lendvai, 20.5.2019)