In seinen Texten gab er gern den Rüpel, der ununterbrochen "Schwuchtel" sagt und selbst auf Männer steht. Auf seinem neuen Album ist Tyler, the Creator Sex eher wurscht.

AFP / Angela Weiss

Bitte vom Anfang bis zum Ende hören, möglichst ohne Unterbrechungen. Weg mit dem Handy, Konzentration! Am wichtigsten ist aber, die Erwartungen anzupassen: Was hier folgt, ist kein Rap-Album.

So ähnlich formuliert es Tyler, the Creator, der mit seinem neuen Werk IGOR auch gleich seine Bedienungsanleitung mitliefert.

Das 28-jährige kalifornische Enfant terrible kokettierte im Laufe seiner zehnjährigen Karriere schon öfter damit, eigentlich kein Rapper sein zu wollen. Nun macht Tyler, the Creator Ernst. So ernst er eben kann: Kaum ein anderer Hip-Hop-Künstler der letzten Jahre spielte so gezielt mit widersprüchlichen Aussagen, mit einer provokanten Inkorrektheit nach dem Vorbild des frühen Eminem und der nihilistischen Ironie einer Generation, die sich selbst gleichzeitig sehr cool und befremdlich findet.

Ein wandelndes Paradox

2009 veröffentlichte der damals 17-jährige Tyler Okonma im Alleingang sein erstes Album Bastard. Es war der rohe, unverfrorene Wurf eines genialen, aber zerrissenen Teenagers, vor dem und um den man gleichermaßen Angst hatte. Zugeordnet wurde sein frühes OEuvre dem Sub-Genre Horrorcore, das sich durch besonders abstoßende, morbide Texte auszeichnet. Auch wenn bei Tyler oft zu viel Witz war, um wirklich bedrohlich zu wirken, reizte den jungen Rapper die Lust an der Grenzüberschreitung.

Er, der privat Teil eines queeren Freundeskreises war, schrieb Texte, die vor krasser Misogynie und Homophobie – auf seinem zweiten Album Goblin verwendet er das Schimpfwort "faggot", also Schwuchtel, 200-mal – nur so strotzen. Richtig schlau wurde man aus ihm nicht. "I'm a fucking walking paradox", stellte er sich folgerichtig 2011 auf der Nummer Yonkers, die ihm zu großer Bekanntheit verhalf, selbst vor.

Tyler, The Creator

Aus jenem bunten Freundeskreis, dem losen Kollektiv Odd Future, gingen über die Jahre einige spannende Stimmen aktueller Populärmusik hervor, wie zum Beispiel R'n'B-Wunderkind Frank Ocean oder die Funktruppe The Internet. Sie beschäftigen sich in ihren Songs auch mit Fragen der Identität, besonders der sexuellen Identität. Als Frank Ocean 2012 in einem offenen Brief von seiner ersten Liebe erzählte, die ein Mann war, markierte das einen Paradigmenwechsel in der hypermaskulinen R'n'B-Welt.

2017 wird Tyler, the Creator auf seinem fünften Album Flower Boy dann selbst seine sexuellen Erfahrungen mit Männern ansprechen. Auf seinem neuen Album IGOR, das eine komplizierte, romantische Beziehung – vom Verliebtsein bis zum Bruch – nachzeichnet, sind viele der Songs an ein männliches Gegenüber gerichtet.

Mehr als ein Rap-Album

Ob Tyler nun schwul oder bi ist oder es nur behauptet, juckt 2019 kaum noch jemanden. Tyler weiß das, wählt seine Themen nicht mehr primär, um kontrovers zu sein. Neben dieser persönlichen Weiterentwicklung verzichtet er auf IGOR weitestgehend auf das, was er am besten kann: Rappen. Er entdeckt seine Singstimme, jagt sie durch verschiedene Verfremdungseffekte, paart sie mit Gesangs- und Rapspenden von Kanye West über Kali Uchis bis zu Playboi Carti. Die verspielten Melodien rücken stark in den Vordergrund, das Tyler-typische Piano gibt wie immer den Ton an. An der Art und Weise, wie sich der Kreator an Soul-, R'n'B-, Funk- und Gospel gütlich tut, merkt man, dass er bei Pharrell Williams gelernt hat. Die Songs biegen so unerwartet ab, wie sie auf den unergründlichsten, wundervollsten Wegen wieder zu sich finden.

Und natürlich wäre es kein Tyler-the-Creator-Album, wenn es nicht viele Detailoy s zu entdecken gäbe. Auf A Boy Is a Gun sampelt Tyler zum Beispiel dieselbe Nummer, die auch Kanye West für seine Motorradritt-Hymne Bound 2 verwendete. Die Originalversion des Songs, Bound 1, koproduzierte niemand anderer als Tyler. Eine Selbstreferenz über zwei Ecken, Chapeau! Man könnte nun jeden Song in extenso besprechen, will sich Tyler aber nur leicht modifiziert anschließen:

Bitte vom Anfang bis zum Ende hören, möglichst ohne Unterbrechungen. Weg mit dem Handy, Konzentration! Am wichtigsten ist aber, die Erwartungen hochzuschrauben: Was hier folgt, ist viel mehr als ein Rap-Album. (Amira Ben Saoud, 22.5.2019)