Wenige Tage vor dem Start der Europawahlen hat ein Blogger in Deutschland für Furore gesorgt. Rezo, wie er sich nennt, stellte ein politisches Video auf Youtube. Provokanter Titel: "Die Zerstörung der CDU". Darin beschäftigt er sich aber nicht nur mit der nationalen Seite der Partei von Kanzlerin Angela Merkel. Er prangert die CDU – und die SPD gleich mit – mit sehr europäischen Themen an: Sie zerstörten durch Unterlassen "unser Leben und unsere Zukunft" – bei Klima, Armut, Bildung.

Der 26-Jährige mit blaugefärbten Haaren, Hoodie und Masterabschluss in Informatik traf einen Nerv. Sein knapp einstündiges Video drückt aus, was eine ganze Generation der Jungen quer über den Kontinent umtreibt: Sorgen und Ängste um ihre Zukunft. Es ging sofort viral.

In nur kurzer Zeit sahen sich Millionen Menschen das Youtube-Video an. Nicht einmal halb so viele hatten sich im ZDF die große TV-Debatte zwischen den beiden EU-Spitzenkandidaten von EVP und S&D angeschaut.

An der Schwelle des Jahrzehnts könnte eine konstruktive EU-Wende eintreten. Das gemeinsame Europa ist nicht mehr populäres Feindbild der Rechtspopulisten oder Selbstverständlichkeit der "Proeuropäer". Für die jungen Menschen, die in einem offenen Europa ohne Grenzen aufgewachsen sind, ist es eine Hoffnungsunion. Mittels Internet und Social Media revolutionieren sie die politische Kommunikation mit.

Das macht die Wahl spannend. Für die traditionellen Volksparteien wird es eine Zitterpartie, obwohl sie versuchen, mit dem Modell der Spitzenkandidaten etwas mehr Demokratie anzufachen. Das ist gut, reicht aber nicht. Wir brauchen ein EU-Wahlrecht, grenzüberschreitende Wahllisten für das EU-Parlament, das aufgewertet wurde.

Erfolgsrausch der Rechtspopulisten

Die nationalistischen Rechten, lange im Erfolgsrausch, können nicht unbedingt mit einem Durchmarsch rechnen. Die Parteienlandschaft wird in Straßburg noch bunter als bisher.

DER STANDARD hat alle Spitzenkandidaten auf Reisen durch Europa begleitet. Der Befund nach vielen Bürgerkontakten war eindeutig: Immer mehr Europäer begreifen, dass wir im selben Boot sitzen – gegenüber den USA, China, Indien im Wettbewerb um Frieden und Wohlstand. Sie brauchen aber mehr Ansprache, mehr EU-Angebot. Nicht mehr nur Migration und Finanzkrise waren die großen Themen, sondern Arbeitswelt, Digitalisierung und Klimaschutz.

Die Rechtspopulisten hatten in 2010er-Jahren von der Vielfachkrise noch fast ohne Konkurrenz profitiert. Das Brexit-Chaos hat viele auf dem Kontinent aber inzwischen wieder skeptisch gemacht. In Italien wird die Lega einen Erfolg landen. In den Niederlanden ist der FPÖ-Fraktionspartner Geert Wilders hingegen abgestürzt.

Das Ibiza-Gate der FPÖ, das die Rechtsregierung in Österreich zu Fall brachte, war ein Meilenstein nationalistischer Irrlichter. Die Freiheitlichen zählen neben der Lega von Matteo Salvini und dem Rassemblement National von Marine Le Pen in Frankreich zu den führenden Parteien der Rechtsfraktion im Europäischen Parlament.

Sie hofften als Avantgarde auf eine "rechte Revolution" in der EU und eine Annäherung an die Konservativen. Nun sind sie blamiert. Derart entlarvend wurde noch nie gezeigt, wie sehr sie unter dem Einfluss des russischen Autokraten Wladimir Putin bereit sind, ihre Heimat – und damit auch Europa – zu verkaufen. (Thomas Mayer, 24.5.2019)