Betrifft: Gravierende Wissenslücken zum Holocaust in Österreich

DER STANDARD ortet "gravierende Wissenslücken" der Österreicher in der Zeitgeschichte. Tatsächlich ist inakzeptabel, wenn über 50 Prozent der Österreicher in einer rezenten Befragung die Zahl der fast sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden nicht annähernd korrekt einschätzen. Das ist ein Auftrag an die Schulen und Bildungseinrichtungen. Was allerdings die Einschätzung der Rolle Österreichs 1938-45 betrifft, dürften sich die Wissenslücken eher aufseiten der Verfasser des Artikels befinden.

Im Text wird kritisch angemerkt, die Ansicht, dass Österreich "sowohl Täter als auch Opfer in der NS-Zeit gewesen sei", werde "nach wie vor breit vertreten", nämlich von 68 Prozent. Das ist erfreulich, da es sich um die historisch korrekte Einschätzung handelt. Der Staat Österreich und viele seiner Menschen, bis hin zu seinen obersten Vertretern, waren Opfer des Nationalsozialismus, der NS-Terrorpolitik und der militärischen Okkupation und Annexion durch Hitler-Deutschland. Andererseits wurden nach dem erzwungenen "Anschluss" zahllose Österreicher zu Mitläufern des Regimes und viele zu Mittätern an den abscheulichsten NS-Verbrechen. Es ist positiv, dass zwei Drittel der Österreicher heute dies in dieser Differenziertheit begriffen haben. Bedauerlich ist, dass Medien dies offenbar nicht tun.

Was eine angebliche österreichische Staatsbürgerschaft Adolf Eichmanns betrifft, von der "nur 14 Prozent wussten", kam der Historiker Georg Kastner nach einem Forschungsprojekt des Karl-von-Vogelsang-Instituts und des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zum Schluss, dass der 1906 als Sohn deutscher Eltern in Deutschland geborene und seit seinem Schulalter bis 1933 in Linz wohnhafte spätere NS-Verbrecher nie Österreicher gewesen sei (Austrian History Yearbook 2002, S. 135). Das – der Vertuschung der Mitschuld von Österreichern an NS-Verbrechen völlig unverdächtige – Dokumentationsarchiv stellt ebenfalls fest: "Tatsächlich war Adolf Eichmann formal kein Österreicher, da er bereits volljährig war, als sein aus Solingen nach Linz zugewanderter Vater die österreichische Staatsbürgerschaft annahm."

Es wäre hoch an der Zeit, dass auch Medien diese Fakten anerkennen und von ihrer "Nur-Täter-Doktrin", der sie in Reaktion auf die lange Zeit vorherrschende, ebenso falsche "Nur-Opfer-Doktrin" heute folgen, zu einem differenzierten Bild übergehen. (Wolfgang Mueller, 24.5.2019)