Die vielen Gesichter der Selbstbestimmung

Das "Missy Magazine" für Pop, Politik und Feminismus wurde im Herbst 2018 zehn Jahre alt. Zum Geburtstag hatten die "Missy"-Macherinnen gleich zwei gute Ideen. Die erste: Sie haben sich nicht stressen lassen. Erst gab es – das natürlich pünktlich – eine rauschende Party. Und ein halbes Jahr später erschien gemütlich ein Sammelband mit Texten von "Missy"-Autorinnen. Sie alle schreiben zum Thema "Consent" – im weitesten Sinne. Und das ist die zweite gute Idee.

Irgendwie will keine deutsche Übersetzung für "Consent" so recht passen. Zustimmung, Zusage, Einverständnis. Wie viel mehr Consent sein kann, die Beiträge aus "Freie Stücke" liefern dazu ein facettenreiches Bild: Während einer Asylanhörung allein aufs Klo zu gehen hat ebenso mit Consent zu tun wie den Busen nach Jahrzehnten der Okkupation durch Männer und Babys endlich wieder für sich allein zu beanspruchen und die knifflige Frage, wie es die leidenschaftlich einvernehmliche Sexbekanntschaft mit #MeToo hält.

Okay, nicht okay und die Frage, in welcher Welt wir leben wollen: Um nichts Geringeres geht es im "Missy"-Geburtstagsbuch.

Sonja Eismann, Anna Mayrhauser (Hg.), "Freie Stücke. Geschichten über Selbstbestimmung", 16 Euro / 160 Seiten, Nautilus-Verlag, Hamburg 2019

Foto: Nautilus

Autobiografie ohne Ich

Die literarischen Selbsterkundungen von Annie Ernaux liegen seit kurzem gleich mehrfach in deutscher Übersetzung vor. Von feministischer Relevanz ist eigentlich alles von Ernaux, besonders aber ihre "Erinnerungen eines Mädchens" und "Die Jahre". Wer wie Annie Ernaux in den 1940er-Jahren geboren wurde, war Zeugin und manchmal Mitkämpferin der größten politischen Umwälzungen für Frauen: sozialisiert in der Nachkriegszeit und den drögen 1950er-Jahren, gefolgt von einem beispiellosen feministischen Aufbruch in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Ernaux arbeitet all das in "Die Jahre" mit einem Dreifachsalto auf: Autobiografie, Historiografie und soziologische Selbsterfahrung. Trotzdem verzichtet sie in dem Buch gänzlich auf ein "Ich", Ernaux spricht nur in der dritten Person über sich und schiebt damit die Frage in den Vordergrund, was von uns zwischen den massiven Prägungen durch die Verhältnisse überhaupt bleibt. In Ernauxs Fall: zwischen Algerienkrise, Ehe, Frauenbewegung, Studium, Mutterschaft und Globalisierung.

Annie Ernaux, "Die Jahre", 18,50 Euro / 255 Seiten, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017

Foto: Suhrkamp Verlag

Noch ein Frauenleben

Der neue Roman von Marlene Streeruwitz ist das passende Buch zum Wahlkampfsommer. "Flammenwand. Roman mit Anmerkungen" verknüpft die Erlebnisse der 50-jährigen Adele mit der gleichzeitig von Sebastian Kurz vielbeworbenen "inhaltlichen Arbeit" der türkis-blauen Koalition. Beispielsweise die Kürzung der Sozialhilfe.

In Adeles Leben ging es derweil um das Ende einer Beziehung, um Unvermögen – genauer gesagt Impotenz – eines Partner, um die tiefen Spuren, die neoliberale Politik in jedem Winkel des Lebens hinterlässt und wie das alles mit Untätigkeit hingenommen wird.

Doch bei Adeles ist es kein Nichtstun aus Prinzip, sondern weil sie genau so ist, wie sie sein soll. "Hochausgebildet. Viel durchschauend. Deshalb gute Fachkräfte. Motiviert daraus. Unerfüllt." Und: "Aber genug behindert im Privaten, kein politischer Faktor werden zu können. Sie alle. Heerscharen von Mittelklasse. Einander im Persönlichen behindernd. Antisolidarisch das Geschäft der Rechten erledigend", zitiert Andrea Heinz in ihrer STANDARD-Rezension aus dem Roman.

Marlene Streeruwitz, "Flammenwand. Roman mit Anmerkungen". 22,70 Euro / 416 Seiten. S. Fischer, 2019

Foto: Fischer Verlag

Der Mythos vom männlichen Genie

Wussten Sie, dass Elvis seine erst 16-jährige Frau Priscilla Presley mit Tabletten ruhigstellte und sie in seinem Haus einsperrte? Eigentlich ist es mehr oder weniger bekannt, dass Elvis – nun ja – "besitzergreifend" war, aber es ist allen völlig egal. Sie wissen schon; was für ein Ausnahmetalent, was für eine tragische Künstlerfigur.

Liv Strömquist erzählt in ihrem aktuellen Comic "I'm every woman" von den Niederträchtigkeiten, die mit dem Argument "Genie" entschuldigt und kleingeredet werden. Oder einfach vergessen. Zum Beispiel: dass das Dienstmädchen von Karl Marx – ja, er hatte ein Dienstmädchen – nicht nur unter schlechten Arbeitsbedingungen arbeiten musste, sondern auch mit ihm ins Bett gehen musste, von Marx geschwängert wurde und sich – als wäre das nicht genug der Zumutung – auch um seine bettlägrige Frau Jenny kümmern musste. Für Jenny Marx war das alles auch kein Spaß. Man muss oft laut lachen ob der absurden Geschichten über diese "großen Männer" und vergisst beinahe, dass sie allesamt wahr sind. Aber nur beinahe.

Liv Strömquist, I'm every woman", 20 Euro / 112 Seiten, Avant-Verlag, Berlin 2019

Foto: Avant Verlag

Affirmativer Antifeminismus

Jessa Crispin stürzt sich streckenweise ziemlich unfair auf den aktuellen Feminismus. Er sei praktisch nur mehr ein teflonbeschichtetes Label, an dem jede Kritik abperlt. Und wenn sich heute praktisch jeder Popstar schon Feministin nennt, der "gleichzeitig regressive Vorstellungen, Bilder und Botschaften" verbreitet, dann wolle sie – Crispin – keine Feministin mehr sein.

Überhaupt würden wir zu sehr an diesem Begriff kleben, seit er so chic geworden ist, schreibt die Journalistin. So würden wir aus den Augen verlieren, was es bedeutet, wenn diese bis vor wenigen Jahren verhasste und verhöhnte Bewegung plötzlich Everybody's Darling ist. Nichts Gutes, daran lässt dieses Buch keinen Zweifel. Selbstermächtigung sei zum Narzissmus verkommen. Und wer etwa eine traditionelle Arbeitsaufteilung zwischen den Geschlechtern vorzieht, darf nicht mehr kritisiert werden, schließlich war es eine "freie", "ihre" Entscheidung. Um politische Auswirkungen solcher Entscheidungen schere man sich nicht und lässt so jene im Stich, die sich nicht vom Patriarchat freikaufen können, wenn es dann doch mal stört. Manchmal unfair, aber manchmal hat Crispin schlicht recht.

Jessa Crispin, "Warum ich keine Feministin bin. Ein feministisches Manifest", 13,40 Euro / 145 Euro, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018

Umfassende Analyse

Warum noch immer Feminismus? Kate Manne geht in ihrem Buch "Down Girl. Die Logik der Misogynie" auf die Mechanismen ein, die ihn bis heute notwendig machen. Denn im Grunde ist es doch erstaunlich, schreibt Manne, wie sehr sich in "angeblich postpatriarchalen" Teilen der Welt sexuelle Übergriffe, Gewalt in Initmbeziehungen oder Frauenmorde als selbstverständlicher Teil unseres Alltags halten.

Das Buch der US-amerikanischen Philosophin ist der Konterpart zu Jessa Crispin. Dort ein polemisches und provokantes Buch über den Feminismus, das begrifflich alles andere als in die Tiefe geht, hier eine 500-seitige Analyse über einen einzigen Terminus: Misogynie. Das erscheint etwas altmodisch, so Manne, dennoch habe sich 2014 mit dem Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs in den USA gezeigt, wie nötig eine genau Analyse patriarchaler Kräfte ist. Dieser Analyse nähert sich Manne eben über Misogynie, die sie als zentrales Instrument versteht, die patriarchalische Ordnung aufrechtzuerhalten. "Down Girl" will uns zeigen, wie systematisch und universell dieses Instrument zum Einsatz kommt – um die herrschenden Geschlechterverhältnisse ein Stück weit besser verstehen zu können.

Kate Manne, "Down Girl. Die Logik der Misogynie", 32,90 Euro / 498 Seiten, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019