Altkanzler Sebastian Kurz hat sich als Abrissbirne des politisch-institutionellen Gefüges der Zweiten Republik geriert.

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Im Gastkommentar stimmt Lehrer und Autor Günter Schütt Hosea Ratschillers Analyse zur politischen Lage in Österreich zu – und ergänzt sie um zwei Gedankensplitter Karl Poppers.

Aus den Erfahrungen des Bürgerkriegs der Ersten Republik ist in der Zweiten Republik ein System der Sozialpartnerschaft, der engen (groß)koalitionären Abstimmung und Regierung erwachsen, das einige Jahrzehnte seine Erfolge hatte. Die Dialektik dieser geschmiert funktionierenden großkoalitionären Sozialpartnerschaft, so Hosea Ratschiller im Kommentar der anderen ("Abrissbirne Kurz: Die Zweite Republik ist Geschichte"), war es jedoch, dass die besten politischen Aushandlungsprozesse in den Hinterzimmern der Gewerkschafter und der Arbeitgeber stattfanden. So verschwand der politische Widerstreit aus dem allgemeinen politischen Bewusstsein.

Kurz' größter Verdienst

Die große Mehrheit der Bevölkerung erlangte indes nie eine Vorstellung davon, was es hieße, politischen Dissens auszutragen und vor allem auch zu ertragen. Es ist die infantile Note der Verhältnisdemokratie, immer in vollster Übereinstimmung mit seinen politischen Repräsentanten leben zu wollen. Auf der Vorderbühne der Politik wurde oft Konsens gespielt. Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung, so Ratschillers Befund, ist daher demokratiepolitisch vorstellungsarm – oder, anders ausgedrückt, wenig geübt in Dissens und Demokratie.

"Sozifresser" Sebastian Kurz hat es nun fertiggebracht, eine Regierungskrise historischen Ausmaßes auszulösen, und sich so zur Abrissbirne des politisch-institutionellen Gefüges der Zweiten Republik gemacht. Wenn eine Partei wie die FPÖ seit mindestens 20 Jahren ungeachtet ihres mediokren politischen Personals derartige Erfolge feiern kann, sitzt der Wurm im System. Dies zu demonstrieren ist Kurz' bisher größtes Verdienst. Doch wie geht es weiter?

Ziehen wir Popper zurate!

Will man die Überlegungen, die der aus Österreich vor den Nazis nach Neuseeland geflüchtete jüdische Philosoph Karl Popper im Exil in seinem Buch "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" darlegte, zusammenfassen, dann ließe sich das stark verkürzt vielleicht mit folgenden Leitmotiven tun: für die unblutige Abwählbarkeit der Regierung, für klare Verantwortlichkeiten, wider das Schlagwort von der Volksherrschaft und wider die Frage "Wer soll herrschen?".

Laut Popper ist es ein Missverständnis, wenn man die Frage "Wer herrscht?" ins Zentrum der politischen Diskussion stellen würde. Popper will die Diskussion bewusst von diesem platonischen Schema fernhalten. Die Frage "Wer herrscht?" sei letztlich unerheblich und auch gefährlich, zumal sie zu unzulänglichem Verallgemeinern verleitet: So hat etwa Platon die Frage mit "die Besten" beantwortet und damit ein Schema zwischen guten Regierenden und schlechten Beherrschten etabliert. Rousseau und Marx haben auf ähnliche Weise die verderbten Regenten/Adeligen/Kapitalisten gegen die guten Besitzlosen ausgespielt, während die vitalsten Demokratien in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts ausgerechnet die Monarchien England und Schweden gewesen seien.

Diffusion der Verantwortung

Wichtiger als die Frage, wer an der Spitze eines Staates steht, sei vielmehr, wie er regiert und, vor allem, wie man die Regentin oder den Regenten wieder ohne Blutvergießen loswird. Daraus lässt sich Poppers erstes und wichtigstes Kriterium für ein eine offene Gesellschaft begünstigendes Staatswesen – nennen wir es Demokratie – ableiten: Die Regierung muss ohne Blutvergießen abgewählt werden können! Poppers wesentlicher Gedanke ist so luzide wie einfach: Nur wenige von uns sind in der Lage, eine (Gesamt-)Politik für einen Staat zu entwerfen, aber alle von uns können beurteilen, ob die Regierenden gut regiert haben. Demgemäß würde Popper auch eine "Übersetzung" von Demokratie als "Volksgericht" anstatt als "Volksherrschaft" bevorzugen.

Ein zweites wesentliches Kriterium ist für Popper jenes der klaren Verantwortlichkeit, weshalb er dem Mehrheitswahlrecht mit einer großen regierenden Partei und einer weiteren großen Oppositionspartei Vorrang vor einer auf dem Verhältniswahlrecht aufbauenden Demokratie einräumt, wo es infolge der Notwendigkeit von Koalitionsbildungen zur Verantwortungsdiffusion kommen muss.

Risiken des Verharrens

Ein Mehrheitswahlrecht bewirkt tendenziell, dass es im Wesentlichen zwei große Volksparteien gibt, die sich wechselseitig an der Macht ablösen und gegenseitig kontrollieren, die sich aber im eigenen Machtinteresse auch nach der gemäßigten Mitte hin ausrichten, die verantwortlich für ihr Handeln in der Regierung sind und die abgewählt werden, wenn sie nicht gut regiert haben. Dagegen ist es für Parteien in Staatswesen mit Verhältniswahlrecht – siehe Österreich – auch dann noch möglich, an der Macht zu bleiben, wenn sie viele Stimmen verlieren, aber in eine Koalition aufgenommen werden.

Das altehrwürdige System, das mit einiger Berechtigung aus der historischen Erkenntnis infolge des Bürgerkriegs der Ersten Republik erwachsen ist, ist offenbar empirisch-praktisch an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gelangt. Vielleicht würde Österreich gut daran tun, mit Bedacht ein Mehrheitswahlrecht einzuführen, vor allem weil derzeit die Risiken des Verharrens größer zu sein scheinen als die Risiken unerwarteter Folgen einer Evolution der politischen Rahmenbedingungen. (Günter Schütt, 30.5.2019)