Bundespräsident Alexander Van der Bellen bewies in den letzten 18 Tagen im wahrsten Sinne des Wortes Leadership.

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Der menschliche Faktor in der Politik bleibt schwer fassbar, doch ohne ihn sind alle Analysen unvollständig. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas schrieb einmal, er sei froh, seit 1945 in einem Land zu leben, das keine Helden nötig hat. Er glaube nicht an den Satz, dass Personen Geschichte machen. Es gibt aber "außerordentliche Situationen, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Fantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft der handelnden Personen für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen".

Das genau geschah in den letzten 18 Tagen in Österreich: die Begegnung einer außerordentlichen Situation – die Selbstentlarvung einer machtgeilen Clique durch das Ibiza-Video – mit einer außerordentlichen Persönlichkeit, einem besonnenen und zugleich entscheidungsfreudigen Staatsoberhaupt. Der von einem Universitätsprofessor für Nationalökonomie und von dem Architekten der bei den letzten Wahlen aus dem Parlament geflogenen Grünen schließlich nach drei Wahlgängen zum Bundespräsidenten gewordene Alexander Van der Bellen hat nicht nur die verfassungsmäßigen Möglichkeiten seines Amts bravourös ausgenützt, sondern seine Handlungen mehrmals schnell, überzeugend, gelassen, gelegentlich sogar mit einer Prise Humor in kurzen TV-Erklärungen den Bürgerinnen und Bürgern übermittelt.

Ungewöhnliche Entscheidungen

In einer beispiellosen Situation in der Geschichte der Zweiten Republik bewies dieser wegen seines Stils und seiner Nachdenklichkeit zuweilen unterschätzte Staatsmann im wahrsten Sinne des Wortes Leadership (das deutsche Wort "Führerschaft" klingt grausig). "Für eine Führernatur ist in der Idealdemokratie kein Platz", sagte der Schöpfer der dieser Tage oft zitierten österreichischen Verfassung, Hans Kelsen. Krisenmanagement bedeutete ungewöhnliche Entscheidungen: die Entlassung eines Ministers auf Wunsch des Bundeskanzlers, die Amtsenthebung einer von ihm eingesetzten Regierung nach einem durch die Parlamentsmehrheit beschlossenen Misstrauensantrag und die Angelobung einer Beamtenregierung geführt von einer Spitzenrichterin.

Die bisherigen Handlungen des Bundespräsidenten fanden in allen Medien fast uneingeschränkte Zustimmung. Dieses Vertrauenskapital wird allerdings auch vor und nach den Nationalratswahlen im Herbst dringend gebraucht.

Nach den Wahlen werden die Karten neu gemischt. Die führungs- und konzeptlose Sozialdemokratie wird höchstwahrscheinlich von ihren internen, politischen und persönlichen Widersprüchen weiter zerrieben. Der rachedurstige rechtsextreme Kern der FPÖ möchte durch eine "Doppelstrategie des offensiven Selbstmitleids" (Franz Schuh) aus der Defensive den Aufstieg zum unvermeidlichen Koalitionspartner erreichen. Der Samstag in seinem Leitartikel vom "Neuen Zürcher"-Chefredakteur Eric Gujer überschwänglich gelobte Sebastian Kurz dürfte laut allen Umfragen die Wahl haushoch gewinnen. Angesichts der unberechenbaren Koalitionsmöglichkeiten dürfte der von der "Wiener Zeitung" zum "Superstar" hochstilisierte Bundespräsident nach wie vor die Schlüsselfigur als Symbol der Vertrauenswürdigkeit in der österreichischen Politik bleiben. (Paul Lendvai, 3.6.2019)